Die einzig mögliche Erklärung: Er hat sich im Kleiderschrank vergriffen. Jetzt trägt Bühnenmeister Herbert Krapp ein schwarzes Shirt mit grasgrüner Aufschrift: „Hetz mich nicht.“ Geradezu die Verhöhnung eines Tages, an dem ihm nur elf Stunden bleiben, wofür er sonst Wochen hat.
Es ist ein Sonntagmorgen in Augsburg, etwa acht Uhr, und Herbert Krapp lädt Käfige aus einem Lastwagen. Mit 16 Kollegen hat er sie am Freitag aus Bamberg hergebracht, die mannshohen Konstruktionen sind Requisiten für ein Theaterstück – Büchners „Woyzeck“. Am Abend wird es in Augsburgs neuer Spielstätte, der Brechtbühne, zu sehen sein. Einmal nur. Premiere und Schlussvorstellung zugleich.
Ein Statement für die Kunst in Zeiten des Sparens
Jedes Jahr kommen Bayerns Theater in einer anderen bayerischen Stadt zusammen, um dort ihre besten, ihre interessantesten Inszenierungen zu zeigen. Es ist ein Familientreffen mit Zuschauern, ein Statement für die Kunst in Zeiten, in denen allerorten gespart wird und deshalb auch die Kultur zur Disposition steht. Augsburg war seit 27 Jahren nicht mehr Gastgeber der Bayerischen Theatertage – jetzt beherbergt es mit den 30. sogar eine Jubiläumsveranstaltung.
Für Herbert Krapp und sein Team spielt das an diesem Sonntagmorgen keine Rolle. Die Techniker müssen anfangen, damit sie fertig werden. In einer Stunde kommt die Ausstatterin, in zwei beginnen die Beleuchtungsproben, danach ein Schnelldurchlauf mit der Band, mit den Schauspielern, kurze Pause, Vorstellung, Applaus, Abbau . . .
Verloren auf der großen Bühne
Mehrere Wochen lang stand „Woyzeck“ beim E.T.A.-Hoffmann-Theater in Bamberg auf dem Spielplan. Es ist, sagt Ausstatterin Tanja Hofmann, eigentlich ein „eher einfaches Bühnenbild“ und sie wusste von Anfang an, dass es auch nach Augsburg gehen wird. Doch weil keine Bühne der anderen gleicht, macht es Arbeit, eine Produktion umzuziehen. In Bamberg zum Beispiel wurde „Woyzeck“ im Großen Haus gespielt, das kleiner ist als das Augsburger. „Da hätten wir uns auf der Bühne verloren“, sagt Disponent Stefan Dzierzawa. So sind die Bamberger nun auf der „Brechtbühne“, Augsburgs Übergangsspielstätte, die gerade noch rechtzeitig fertig wurde.
Herbert Krapp und seine Kollegen stehen dort vor Herausforderungen: Das System, an dem die Kulissen aufgehängt werden, unterscheidet sich von dem in Bamberg. Die Züge tragen nicht so viel Gewicht, die Käfige müssen anders verteilt werden. Auf dem Papier ist das längst geschehen. Jetzt, vor Ort, am Sonntagmorgen, muss Krapp sie umsetzen. Ein Kollege hat in Bamberg noch alles fotografiert; zur besseren Orientierung. Es ist halb zehn, als er feststellt, dass er die Bilder zu Hause vergessen hat. „Ich Idiot“, sagt er – und grinst.
Ein Wimmelbad im Theaterformat
Krapp lässt sich noch immer nicht hetzen. Er hat sich in die erste Zuschauerreihe gesetzt, Bandleaderin Bettina Ostermeier zeigt ihm irgendein Video auf ihrem Smartphone. Vorne, auf der Bühne, passiert alles auf einmal, gesprochen wird kaum. Ein Wimmelbild in Theaterformat. Neben dem Klavier schlägt einer Nägel in den neuen Bühnenboden. Eine Frau legt ein Stück Fell in einen Käfig. Ein Techniker streicht Dachlatten schwarz, zwei Assistentinnen beobachten ihn und wundern sich. „Pinselt der jetzt ohne zu fragen hier die Latten an?“ Ein Bamberger läuft durch die Reihen und sucht einen Ansprechpartner aus Augsburg: „Hallo, ich bin der Jochen, der Requisiteur, ich bräuchte noch ein paar Tische . . .“ Er unterbricht seine Suche, als eine junge Kollegin auftaucht. Es ist kurz vor zwölf, sie hat es nicht früher geschafft. „War ja dann doch recht lang gestern Abend und das letzte Bier hätt’ ich doch nicht mehr . . .“
60 Aufführungen in zwei Wochen bedeuten schlaflose Nächte
Produktionen auf- und abzubauen ist im Theater an der Tagesordnung, doch der Zeitplan ist selten so eng wie bei einem Festival. 34 Bühnen nehmen an den Bayerischen Theatertagen teil – mit über 50 Produktionen und über 60 Aufführungen in zwei Wochen. Augsburg hat vier Spielstätten. Man muss kein Rechenkünstler sein, um zu wissen: Verdammt knapp, das alles.
An manchen Tagen wird vormittags die eine Produktion aufgeführt und abends die nächste. Dann machen die Techniker Nachtschichten. Herbert Krapp und seine Kollegen auch: Am Tag zuvor waren sie nachmittags im Hoffmannkeller, wo das E.T.A.-Hoffmann-Theater ein Jugendstück zeigte, am Abend dann im Augsburger Textilmuseum, wo es eine zeitgenössische Produktion gab. Auch an diesen beiden Spielstätten dasselbe Team, dasselbe Spiel: Aufbau, Probe, Pause, Vorstellung, Applaus, Abbau.
Für die Bamberger sind die Theatertage ein Betriebsausflug. Etwa 50 Leute sind da, insgesamt hat das Haus 72 Mitarbeiter. „Bei uns daheim gibt’s dieses Wochenende nur Gastspiele“, sagt Intendant Rainer Lewandowski. Er möchte dem Augsburger Publikum zeigen, welche Bandbreite sein Haus hat; Jugendstück, Musical, Schauspiel – alles dabei. Gleichzeitig ermöglicht er es seinen 16 Schauspielern, Festivalatmosphäre zu erleben. „Es beflügelt sie, etwas anderes zu spüren als die bekannte, eingefahrene Sehensweise des eigenen Publikums.“
Die Dynamik bei Gastspielen
Inszenierungen entwickeln bei Gastspielen eine andere Dynamik als zu Hause. „Hier in Augsburg haben die Zuschauer an Stellen gelacht, die die Bamberger nie lustig fanden.“ Und dann sei es gerade auch für kleinere Häuser wichtig, sich den Kollegen zu präsentieren und danach bei einem Wein noch darüber zu sprechen, was der andere so macht und wie.
Als die Bayerischen Theatertage gegründet wurden, war der Austausch untereinander der wichtigste Antrieb. Elf Bühnen waren anfangs dabei, mit den Jahren ist das Festival gewachsen. „Der ursprüngliche Gedanke, dass alle Künstler während des ganzen Festivals in der Stadt sind, um Kontakte zu knüpfen, wurde nie richtig umgesetzt. Und je mehr Bühnen dazukamen, desto schwieriger wurde das“, sagt Lewandowski, dessen Haus 2011 Gastgeber war. Trotzdem sind die Theatertage ein fixer Termin im Kalender vieler Bühnen. Wegzubleiben, weil es Wichtigeres gibt, erlaube sich allenfalls ein Staatstheater.
Der Sonntag ist jetzt schon in seiner zweiten Hälfte und während Lewandowski sich in einem Augsburger Lokal gerade darüber ärgert, dass es den Spargel nicht ohne Rumpsteak gibt, weil das nun eben mal das Menü sei, tüftelt Bühnenmeister Herbert Krapp mit seinen Leuten an Feinheiten. Es wird „eingeleuchtet“. Die Scheinwerfer im kleinen Augsburger Haus sind noch so neu, dass sie einen seltsamen Geruch entwickeln. „Fackelt mir ja vor der Vorstellung das Haus nicht ab“, sagt einer.
Wo geht man ab, wo tritt man auf?
Auch die Schauspieler sind jetzt da. Einige standen schon tags zuvor in Augsburg auf der Bühne, die anderen sind gerade erst in der Stadt angekommen. Um den „Woyzeck“ noch einmal komplett durchzuspielen, fehlt die Zeit. Es gibt lediglich eine „Orientierungsprobe“: Wo geht man ab, wo tritt man auf? „Weil die Bühne eine andere ist als zu Hause, hat sich da ja einiges verändert“, sagt Disponent Dzierzawa. Noch eine Tonprobe, noch einmal kurz ins Hotel, dann zurück in die Maske; mehr Zeit bleibt nicht.
Sonntagabend, kurz vor 19 Uhr. Die Brechtbühne ist ausverkauft, 250 Besucher wollen den Bamberger „Woyzeck“ sehen. Oliver Brunner, der die Theatertage in Augsburg organisiert, klettert fünf Minuten vorher auf die Theke an der Garderobe und entschuldigt sich: Der Vorstellungsbeginn werde sich um eine Viertelstunde verzögern, weil die Beleuchtungsproben länger dauerten als gedacht. Herbert Krapp hat sich nicht hetzen lassen, was wichtig ist. Denn am Ende wird bei den Zuschauern die Inszenierung hängen bleiben, nicht deren Anfangszeit.
Als die erste Szene gespielt wird, sind auch die Bamberger gespannt. Die Dachlatten oben an der Decke sind nicht ganz perfekt gestrichen und die Musik, meint Dramaturgin Ulrike Kitta, war vielleicht einen Tick zu laut. Sonst aber: „Super, wir freuen uns. Ein guter Woyzeck.“
Eine letzte Verbeugung und dann wird alles wieder eingepackt
Die Schauspieler werden am Ende dieses Tages zugeben, dass sie recht nervös waren. „Wenn nur so wenig Zeit bleibt, um sich auf eine Vorstellung vorzubereiten, ist das anstrengend.“ Rainer Lewandowski findet gerade das gut: „In einer solch angespannten Situation ist die Präsenz auf der Bühne eine stärkere.“
Gegen halb zehn Uhr abends verbeugen sich die Schauspieler ein letztes Mal, das Publikum verlässt den Saal. Es ist der Moment, in dem Bühnenmeister Herbert Krapp und sein Team den letzten großen Auftritt dieses Wochenendes haben. Gut zwei Stunden dauert es, bis die Bühne wieder leer ist, bis die Instrumente abgebaut und die Käfige im Lastwagen verstaut sind. Die Musiker fahren noch in der Nacht nach Hause, Krapp bleibt noch einen Tag länger in Augsburg. Am Montag hat er frei, am Dienstag geht es in Bamberg los mit einer neuen Musicalproduktion. Krapp atmet tief durch. Hetzen lässt er sich nicht . . .