Sein Gespür dafür, dass das, was sich gerade auf der Straße vor den eigenen Augen abspielt, irgendwann Ausdruck eines historischen Ereignisses wird, hatte er beim Untergang der DDR geschärft. Deshalb war für den jungen Augsburger Fotografen Daniel Biskup im August 1991 klar: Ich muss nach Moskau, ich muss dorthin, wo es diesen Putsch gibt. Also sprang er auf von der Kaffeetafel im Elternhaus in Bonn und flog in die UdSSR, die es damals noch gab. „Ich spreche kein Russisch. Ich kenne niemanden. Ich kaufe mir dort also einen Weltempfänger, sitze in Moskau auf dem Bordstein und höre Deutsche Welle, um mitzubekommen, was da gerade passiert.“
Biskup fotografiert Umbruch in UdSSR
Vor allem aber fotografiert Biskup. Leute auf der Straße, Menschenaufläufe, Geschäfte, Zeichen des Umbruchs. „Ich wusste schon damals: Ich mach’s nicht für jetzt, sondern für die Zukunft.“ Festhalten, dokumentieren, hinsehen, mitschreiben in Bildern. Ein bisschen wie bei der Traubenernte sei das, meint der Fotograf: Wie guter Wein wird ein Bild mit jedem Jahr besser. Über elf Jahre ist er immer wieder nach Russland gereist und hat hunderte von Momentaufnahmen gemacht, die, das ahnte er, irgendwann von historischem Wert sein würden. Niemand sagte ihm, was er wo und wie fotografieren sollte. Der 1962 geborene Biskup ist ein Instinktfotograf, einer, der mit einem Lächeln das Vertrauen Fremder auf der Straße gewinnt. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder bescheinigt Biskups Aufnahmen „bestechende Authentizität“. Mit seinem „offenen Blick“ habe er die seelischen Belastungen und die gebrochenen Biografien der Menschen in der untergehenden Sowjetunion sichtbar gemacht.
Wie zerrissen die Gesellschaft war, wie rasend schnell Wandel und Umbruch durch Moskau und Sankt Petersburg fegten, wie die Öffnung nach Westen und das verzweifelte Klammern an alte Gewissheiten nebeneinander existierten – all das zeigt Biskups opulenter Bildband „Russland – Perestroika bis Putin“, den der Fotograf aus seinem Bilderarchiv destilliert hat. Er hat Jelzin fotografiert, stürzende Denkmäler, Demonstrationen, Barrikaden um das „Weiße Haus“ in Moskau. Und er war 2000 der erste deutsche Fotograf, der den neugewählten Präsidenten Wladimir Putin porträtierte.
Vor allem aber sind es die Alltagsszenen, die Biskups Buch zu einer authentischen Reise zurück bis zur Auflösung der UdSSR von 25 Jahren machen. Plakate, Schaufenster, Modenschauen, Werbung, hippe Untergrundorte, Rentner, die sich mit Bildern von Lenin und Stalin gegen den Lauf der Geschichte stellen – für solche sprechenden Details hat Biskup ein besonderes Auge. Sein Fotoband ist ein einmaliges Geschichtsbuch, mit dem der Fotograf seinen Ruf als das „Auge der Revolution in Osteuropa“ bekräftigt. Daniel Biskup sagt, die Neunzigerjahre seien das freieste Jahrzehnt in der Geschichte Russlands gewesen. Auch daran will er erinnern.
2017 zeigt der Fotograf seine Russland-Bilder in Ausstellungen in Augsburg (Schaezlerpalais, ab 21. Februar) und Sankt Petersburg.