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Literatur-Debatte: Alleen, Blumen, Frauen - ist dieses Gedicht sexistisch?

Literatur-Debatte

Alleen, Blumen, Frauen - ist dieses Gedicht sexistisch?

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    Eugen Gomringers Gedicht auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin.
    Eugen Gomringers Gedicht auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Foto: David von Becker/dpa

    Eigentlich bewundernswert, diese Alice-Salomon- Hochschule in Berlin. Nicht nur, weil die Fachhochschule neben ihrer Aufgabe, der Ausbildung für soziale Berufe, einen Poetik-Preis vergibt. Die Alice-Salomon-Hochschule hat auch eine Stirnseite ihres Hochschulgebäudes für die Präsentation eines Gedichts hergenommen. Es stammt von Eugen Gomringer, und die Verwendung als Fassadenschmuck ist Folge der Verleihung des Alice-Salomon-Poetik-Preises an den Schweizer Dichter im Jahre 2011. Die damalige Hochschulleitung beschloss, Gomringer um eines seiner lyrischen Werke für die Fassade zu bitten, ein Vorhaben, dem der Dichter mit „avenidas“ entsprach. Seither steht in großen Lettern Gomringers Gedicht auf der Mauer: Verse über Alleen, Blumen, Frauen und einen Bewunderer. Zu lesen für jeden, der hier im

    Nun aber stellt sich der AStA der Hochschule, die Vertretung der Studentenschaft, quer. Schon im vergangenen Jahr hieß es in einem offenen Brief an das Rektorat, dass man Gomringers Gedicht als Aushängeschild der Hochschule nicht für gut befinden könne. Denn dieses Gedicht, so der Wortlaut (unter strikter Verwendung des Gender-Sternchens), „reproduziert nicht nur eine klassische patriarchalische Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind“. Schlimmer noch: Das Gedicht erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind“. Zwar kommen die Unterzeichner des Briefes – der Diktion nach sind sie überwiegend weiblich – dem Gedicht so weit entgegen, dass sie ihm „keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare“ unterstellen. Dennoch „erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches ,Frau‘-Sein bewundert zu werden“. Eine Bewunderung, die häufig mit der Angst vor wenn nicht gar dem Erleben von Übergriffen verbunden sei. Die Entfernung des Gedichts würde daher von den Briefschreibern als „Fortschritt“ empfunden.

    Höchste Zeit also, sich einmal genau anzusehen, wovon Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“ denn eigentlich spricht.

    Das Gedicht wurde 1951 geschrieben und findet sich in dem epochemachenden Gedichtband „konstellationen“. Wie schon gesagt, ist es auf Spanisch verfasst – Gomringer, 1925 in Bolivien geboren, ist dieser Sprache mächtig. Das Gedicht verwendet lediglich sechs verschiedene Wörter, die sich selbst für Spanisch-Unkundige mithilfe eines Wörterbuchs entschlüsseln lassen. Unter der Überschrift „Alleen“ steht da: „Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“.

    Gomringers Gedicht kommt mit wenigen Worten aus

    Eugen Gomringer, einer der innovativsten Lyriker des deutschen Sprachraums in der zweiten Jahrhunderthälfte, nennt diesen Gedichttypus „Konstellation“, ein Zusammentreffen von Wörtern. „Avenidas“ kommt völlig ohne Verben und Adjektive aus; vier Substantive bilden das Gerüst, Verknüpfungen ergeben sich durch das fünfmal erscheinende Bindewort „und“, einmal taucht ein unbestimmter Artikel auf. Sprache, aufs Äußerste reduziert, Konkrete Poesie (eine Gomringer-Wortschöpfung) im eigentlichen Sinne: Die Wörter sind lediglich gereiht; wie sie sich zueinander in welchem Sinn verhalten, darüber ist in dem Gedicht nichts gesagt. Assoziationen aller Art sind hier die Türen geöffnet, doch tatsächlich festmachen lassen sie sich nicht in diesen acht Versen. Wo also wären hier Impulse zu finden für „potenziell übergriffige und sexualisierende Blicke“, wie es in dem AStA-Schreiben heißt? Lässt sich das allen Ernstes ableiten aus dem Da-Stehen des einen Wortes „amirador“, des (männlichen) „Bewunderers“ von Alleen, Blumen, Frauen?

    Das Kopfschütteln über die alarmistische Lesart der Hochschul-Studentenvertretung geht jedenfalls reihum. Moderat ist da noch der Appell von Nora Gomringer, Tochter des Dichters und selbst anerkannte Lyrikerin, die in einem Facebook-Video einen instruktiven Grundkurs in genauer Lektüre abhält. Durch das „und“, argumentiert sie, sei doch auch der „Bewunderer“ ein Teil der Aufzählung, gleichwertig allen anderen Begriffen des Gedichts und somit keinesfalls distanzierter Macho. Schriftsteller Christoph Hein wird da schon deutlicher. Einen „barbarischen Schwachsinn“ nennt er den Vorstoß des AStA, und die Präsidentin der Autorenvereinigung Pen, Regula Venske, fürchtet gar, mit dieser „Provinzposse“ solle der Kunst ein Maulkorb verpasst werden.

    Inzwischen hat die Alice-Salomon-Hochschule tatsächlich einen Aufruf zur Neugestaltung der Gedicht-Fassade gestartet. Bis Mitte Oktober sollen Vorschläge gesammelt, dann in einer Abstimmung darüber entschieden werden. Der Urheber der „avenidas“, Eugen Gomringer, hat sich inzwischen im Schweizer Rundfunk zu Wort gemeldet und erklärt, dass er einer Übermalung nicht zustimmen werde. Am Wert seines Gedichts, am Wert Konkreter Poesie überhaupt, hält er fest, gerade „in diesen Tagen, wo man den Wörtern nicht mehr richtig glaubt“. Da brauche es „eine Sprache, die vielleicht aus wenigen Wörtern besteht“.

    Das Unbehagen, das die Studentinnen der Alice-Salomon-Hochschule artikulieren, wenn sie in ihrem offenen Brief schreiben, der Platz vor der Hochschule und die dazugehörende U-Bahn-Station seien „vor allem zu später Stunde sehr männlich dominierte Orte“, dieses Unbehagen ist sicher nicht zu bestreiten. Doch die Art und Weise, wie dieser Beklemmung Luft verschafft werden soll, ist die falsche – sie diskriminiert nämlich selber: einen des Sexismus unverdächtigen Lyriker und sein Werk. Ein bedauerlicher Vorgang.

    Wenn man nicht so weit gehen und das Sehen schlechthin unter Generalverdacht stellen will, dann ist „avenidas“ in seiner strukturellen Offenheit, seiner Unbestimmtheit im Festlegen von Bedeutungen nicht anders zu lesen denn als Ausdruck eines nicht-„objektivierenden“, eines freien und absichtslosen Blicks. Eugen Gomringers Gedicht ist ein Sprache gewordener Ausdruck für unbelastete Begegnungen jeglicher Art. Wenn die Hochschule solch lyrische Qualität nicht zu erkennen vermag, sollte sie aufhören, im Namen von Alice Salomon einen Poetik-Preis zu vergeben.

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