Das sind ja keine guten Aussichten: Peter Roßteutscher nimmt die Draisine unter den Arm und trägt das klobige Holzlaufrad über die Ampelkreuzung. "Ich fahre damit nicht mehr. Das ist mir viel zu unbequem." Dabei stand zuerst die verrückte Idee im Raum, mit diesem Gefährt die ganze Strecke abzufahren, die Freiherr Karl von Drais vor 200 Jahren für die erste Fahrradtour der Geschichte genutzt hatte. Da hatte der Projektmanager des Jubiläumsjahres in Mannheim in Mannheim sehr gelacht.
Es klappert und scheppert. Rechtes Bein vor, linkes Bein vor. Immer weiter so. Läuft doch eigentlich gar nicht so schlecht. Kreuz und quer geht es über den Mannheimer Schlossplatz. Das Lenken? Irgendwie funktioniert es nur steif und störrisch, aber die Kurve klappt ordentlich und die zweite schon geschmeidiger. Und wie geht das Bremsen? Einfach auslaufen lassen … Ist ja schließlich auch ein Laufrad. Dennoch ist der Selbstversuch mit einer grob nachgebauten Draisine ein einziger Balanceakt. Nach der schwerfälligen Testrunde auf dem Schlossplatz ist es so, wie Roßteutscher prognostiziert hat. Schon nach ein paar Metern fühlt sich der alte Ledersitz ziemlich hart an und das schwere Holzrad sehr behäbig. Ein Klotz auf Rädern. Kein entspanntes Vergnügen wie damals an jenem Donnerstag, 12. Juni 1817, als Freiherr Karl von Drais zu seiner historischen Ausfahrt startete, sondern eher harte Beinarbeit. Das Modell, das der Mannheimer Radrennclub RRC Endspurt extra für Draisinen-Gaudirennen in Mannheim angefertigt hat, ist auch längst nicht so elegant und ausgefeilt wie das Urmodell von Drais.
Bergab sogar "schneller als ein Pferd"
Doch das gedrungene Holzrad aus dem Jahr 1973 genügt, um sich zumindest einen Eindruck davon zu verschaffen, wie Fortbewegung mit dem Prototyp aller Fahrräder überhaupt funktioniert hat. Gut eine Stunde dauerte die erste Radtour aller Zeiten. Sie führte den Freiherrn vom Mannheimer Schloss, wo sich gleich um die Ecke das Wohnhaus der Familie Drais befand, zur Relaisstation in Richtung Schwetzingen. Zwischen den beiden Schlössern befand sich die einst am besten ausgebaute Straße der Gegend. Der 32-jährige Drais fuhr sieben Kilometer bis zur einstigen Pferdewechselstation in Rheinau, dann machte er sich wieder auf den Rückweg. Konnte er ahnen, dass er mit seiner Jungfernfahrt den Grundstein für die individuelle Mobilität und für die Entwicklung des Fahrrads setzte?
Mit seiner Pioniertat war Drais offensichtlich zufrieden. In einer Zeitungsanzeige beschrieb der Forstwirt, der von Großherzog Karl Friedrich bei vollen Bezügen freigestellt war, die Eigenschaften seiner Erfindung folgendermaßen: "Bergauf geht die Maschine, auf guten Landstraßen, so schnell als ein Mensch in starkem Schritt." Bergab sogar "schneller als ein Pferd". Was für eine Sensation das damals gewesen sein musste: Man konnte ein Reitpferd durch eine Laufmaschine, wie Drais seine Entwicklung nannte, ersetzen und war dabei fast genau so schnell.
Der Freiherr war wohl so etwas, was man heute ein Marketing-Genie nennen würde. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von der Erfindung einer Laufmaschine. Die Idee schlug so gut ein, dass das Fahren mit Draisinen auf Gehwegen schon im Dezember 1817 verboten wurde. Zu viele Unfälle habe es gegeben. Lediglich im Mannheimer Schlosspark durfte die Draisine auf den Hauptwegen benützt werden. Seit einigen Wochen Jahr weist dort ein Gedenkschild auf den ersten "Fahrradweg der Welt" hin.
Reich wurde der Freiherr durch seine Erfindung allerdings nicht. Handwerker bauten die Laufräder aufgrund der Ausstattungsliste einfach nach. Wobei nach und nach die filigrane Bauweise des Originals verloren ging. Drais’ Laufrad hatte bereits einen Gepäckträger, einen höhenverstellbaren Sattel und Lenker und klappbare Stützen am Vorderrad zum Parken. Es hatte 26-Zoll-Räder und wog lediglich 22 Kilogramm, weil der Erfinder jahrelang getrocknetes Waldeschenholz verwendete.
"Er war genauso schnell wie wir heute", sagt Roßteutscher. Die Holzdraisine ist längst an einem Fahrradständer in der Nähe des Schlossplatzes angekettet und es geht mit einem ganz normalen City-Leihfahrrad weiter. Seit sechs Jahren gibt es in Mannheim eine Drais-Route, die sich möglichst nah an die Originalstrecke der historischen Ausfahrt des Freiherrn anlehnt. Die einst bestausgebaute Straße ist es auch heute noch, mittlerweile eine Hauptverkehrsachse der Industriestadt Mannheim. Längst sind hier keine Pferdekutschen und Fußgänger mehr von Schloss zu Schloss unterwegs. Lastwagen und Pkws donnern auf der B 36 vierspurig vorbei, die einige Kilometer weiter direkt zur Autobahn führt.
Deutlicher kann nicht nur Radlern vor Augen geführt werden, wie Verkehrswege den Verkehrsmitteln angepasst werden, wie aus kleinen Orten Stadtteile einer Großstadt werden. Irgendwie logisch, dass dieser Weg durchs einst idyllische Grün nun ein einziges graues Asphaltband ist - bequem für Autofahrer, aber alles andere als schön.
Vom Hauptbahnhof Mannheim geht es zunächst in Richtung Schwetzingen über eine kanariengelb gestrichene Stahlbrücke, den Rheinauer Übergang, später durch eine nette grüne Wohnstraße, eine extra ausgewiesene Fahrradstraße, in der die Radler Vorfahrt haben, dann an klassischen Arbeitervierteln vorbei mit mehrstöckigen Wohnhäusern direkt an der B 36. Manchmal rauchen Industrieschornsteine am Horizont, dann führt der Weg neben einer Fernwärme-Leitung entlang, bis die Tour schließlich auf einer Verkehrsinsel mit einem so schlichten wie kuriosen Denkmal endet. Das ist Rheinau. Etwa hier soll die Relaisstation, das Ziel der historischen Ausfahrt, gewesen sein. Nun ist da ein Betonsockel mit einer stilisierten Stahldraisine darauf zu sehen. Eine Verkehrsinsel! Mehr ist nicht mehr da.
"Mich berührt die Lebensgeschichte von Drais"
Das ist auch das Problem der Stadt Mannheim, die sich etwas schwer tut, das Jubiläum anschaulich zu gestalten. Vieles bleibt auch nach einer Radtour auf den Spuren des genialen Erfinders im Unklaren. Von Drais gibt es keine Tagebuchaufzeichnungen. Viele historische Orte in und um Mannheim sind durch die Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Die Relaisstation ist abgebrannt, dort wo einmal das Geburtshaus des Fahrrad-Erfinders war, ist nun der Sitz des Evangelischen Dekanats, ein grauer 60er-Jahre-Bau direkt an der Breiten Straße, die vom Schloss aus in die Innenstadt führt. Aber es gibt Menschen in Mannheim, die wie Saara Morsch von Drais und seiner Erfindung noch immer fasziniert sind. Die Mannheimerin sammelt Draisinen. "Mich berührt die Lebensgeschichte von Drais, der es in seinem Leben nicht leicht hatte", sagt die 37-Jährige. Zur Sammlerin wurde sie wegen der Ästhetik der Originaldraisinen, die "etwas Natürliches und Lebendiges an sich haben".
Vier historische Modelle besitzt Morsch, das älteste aus dem Baujahr 1900 ist derzeit in der Landesausstellung "2Räder - 200 Jahre Karl Drais und die Geschichte des Fahrrads" im Mannheimer Technoseum zu sehen. Wenn Saara Morsch von ihren Laufrädern erzählt, kommt sie ins Schwärmen: "Ein bisschen sind sie wie meine Kinder." Gefunden hat sie ihre "Karlchen" allesamt im Internet. Doch nun im Jubiläumsjahr soll noch ein besonderes Modell dazukommen. Es wird ein originalgetreuer Nachbau der Draisine aus dem Deutschen Museum in München sein, den Morsch nun extra anfertigen lässt. Ende April soll ihr neuestes Karlchen ausgeliefert werden. Aber in den Straßen von Mannheim wird sie damit wohl nicht unterwegs sein.
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