Es kann jeden treffen. Und es kann ganz schnell gehen. Eine private Nachricht, die per Bildschirmfoto an eine WhatsApp-Gruppe weitergeleitet wird; das nur für den Freund bestimmte Foto, das dieser aus Angeberei an seine Kumpels schickt, die es verbreiten; das Outfit, das in den Augen einer "Freundin" daneben war; Erfolge, die zum Aufhänger für Lästereien oder manipulierte Bilder werden; Gewaltvideos, die ein Junge einfach von Freunden zugeschickt bekommt – Klaus Kratzer von der Kriminalpolizei Augsburg kennt viele solcher Cybermobbingfälle aus der Region und er weiß auch, wie sich die Opfer fühlen, wie verzweifelt sie zum Teil sind. Zumindest jene, die sich an die Polizei gewandt haben. Aber da ist noch eine große Zahl jener Jugendlichen, die sich diesen Schritt nicht trauen, weil sie befürchten, dass dann alles noch schlimmer wird.
Cybermobbing - Mobbing ohne den Aus-Knopf
Ein paar von ihnen vertrauen sich auch den jugendlichen, ausgebildeten Scouts der Beratungsplattform www.juuuport.de an. "Wir haben die gleichen Lebenswelten, wir hören ihnen zu und können sie vielleicht besser verstehen als mancher Erwachsene", sagt der 23-jährige Adrian Jagusch, der seit acht Jahren einer dieser Online-Scouts ist und schwere Fälle an Psychologen vermittelt. Wie viele Opfer er schon beraten hat, das hat er nicht gezählt. Er vermutet eine hohe dreistellige Zahl. Auf jeden Fall kämen heute mehr Anfragen als noch 2009. Ob es generell mehr Mobbing gibt, wisse er nicht. Was ihm aber aufgefallen sei: Die Hänseleien haben andere Dimensionen angenommen.
Handys an bayerischen Schulen
WAS? In Bayern herrscht seit 2006 ein Handyverbot an den Schulen. Das bedeutet: Schüler müssen ihre Geräte auf dem Schulhof und in den Gebäuden ausschalten. Bei Verstößen können Lehrer die Smartphones über einen begrenzten Zeitraum einbehalten. Das kann sich bei Wiederholungstätern über mehrere Tage hinziehen. Lehrkräfte können Ausnahmen von der Regel erlauben.
WARUM? Das Handyverbot sollte vor allem Lehrern das Leben erleichtern, wie Julia Lindner vom Kultusministerium Bayern erklärt. Auf Smartphones war diese Entscheidung noch nicht ausgelegt, da erst im Jahr 2007 das iPhone auf den Markt kam. Danach eroberten die schlauen Telefone auch die deutschen Pausenhöfe. Pläne, das Verbot abzuschaffen, gibt es derzeit nicht.
WIE? Die Realität an bayerischen Schulen sieht laut Kulturministerium anders aus. Lehrer können das Verbot nicht durchsetzen und die Handys werden zunehmend ein Teil des Unterrichts. Vor allem Software zum Lernen und Üben wird in Klassenzimmern immer öfters genutzt. Der schnelle Zugang zum Internet erlaubt zudem Recherchen, auch wenn Computerzimmer belegt oder außer Betrieb sind.
WOZU? Smartphones können jedoch nicht nur praktisch sein, sondern auch viel Schaden anrichten. Kritiker betonen, dass Cyber-Mobbing immer mehr zunehme und geheime Videoaufnahmen regelmäßig die Privatsphäre von Schülern und Lehrern verletzten. Jugendverbände und Parteien fordern schon lange, Medienerziehung fest in den Lehrplan der Grundstufen aufzunehmen.
"Früher gab es auch Mobbing", sagt Jagusch, "da hatte man aber daheim seine Ruhe. Heute kann man nicht mehr abschalten. Selbst, wenn man das Handy ausmacht, geht es weiter." Diese Ohnmacht und Unsicherheit vor dem "Was kommt als Nächstes" macht vielen Opfern zu schaffen. Je mehr sich an den Lästereien beteiligen, desto größer kommt das Ganze beim Opfer an. Es hat das Gefühl, alle gegen sich zu haben. Manche Betroffene bekommen dadurch auch Bauchschmerzen. Andere wollen nicht mehr zur Schule gehen und schreiben schlechtere Noten. Und wieder andere lassen sich äußerlich nichts anmerken. Viele wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Immer wieder bekommen die Scouts zu hören: "Meinen Eltern kann ich davon nicht erzählen, weil die mir dann das Handy wegnehmen." Dabei ist "Handy weg" hier keine Lösung.
Was Betroffene und Eltern tun können
Jagusch rät häufig als Erstes dazu, sich ein Hilfsnetzwerk an Unterstützern aufzubauen, die dagegenhalten und das Mobbingverhalten öffentlich machen können. "Alleine kommt man da nicht raus", sagt er. Wenn sich Opfer nicht den Eltern anvertrauen wollen, rät er oftmals, Vertrauenslehrer hinzuzuziehen, die sich inzwischen häufig schon gut mit dem Thema auskennen und Klassenregeln aufstellen können, so Jagusch. Kratzer empfiehlt zudem, nicht auf die Lästereien etwa bei WhatsApp oder Snapchat zu antworten, weil das die Täter nur weiter befeuere.
Und was können Eltern tun? Jagusch und Kratzer empfehlen, aufmerksam zu sein, immer ein offenes Ohr für das Kind zu haben, es mit seinen Problemen ernst zu nehmen, keine Vorwürfe zu machen, gemeinsam eine Lösung zu suchen. Häufig sei es sinnvoll, die Schule einzuschalten. Eine Patentlösung gegen Cybermobbing gebe es aber nicht.
Fast die Hälfte der Täter begründet Mobbing als Reaktion, etwa "weil ich Ärger mit der betreffenden Person habe". Ein knappes Fünftel schwört Rache für ein anderes Mobbing-Opfer, ein weiteres Fünftel betreibt Mobbing "nur zum Spaß". Rund jeder Zehnte mobbt wegen schlechter Laune, aus Langeweile, "weil andere das auch machen" oder "weil es cool ist" (aus der Studie des "Bündnis gegen Cybermobbing").
Cybermobbing aus Sicht der Opfer
Doch es gibt noch eine weitere Seite des Cybermobbings - die verkehrte sozusagen, jene also, gegen die Opfer, Lehrer, Eltern, Polizisten, mitunter sogar Gerichte, kämpfen. Wer sind die Menschen, die andere online beleidigen? "In den meisten Fällen kommen die Täter aus dem Bekanntenkreis", sagt Adrian Jagusch. Täter gibt es in nahezu jeder Schulklasse und jeder Schulart. "Ich habe das Gefühl, die Opfer werden immer jünger", sagt Klaus Kratzer vom Präventionsteam der Kriminalpolizei Augsburg. Diesen Trend hat auch das Bündnis gegen Cybermobbing festgestellt.
Da immer mehr Menschen ein Smartphone besitzen, verfügen auch immer mehr Menschen über das Werkzeug zum Cybermobbing. Bereits 87 Prozent der Jugendlichen ab zehn Jahre haben so einen Computer für die Hosentasche. Sie verwenden das Handy anscheinend nicht nur für positive Kommunikation auf Diensten wie WhatsApp und Snapchat. Die Privatsphäre ist dort nur eine Illusion. Mit ein paar Klicks können Bilder und auch Lästereien an viele Menschen verbreitet und nicht mehr zurückgeholt werden. Der oder die Täter sehen durch ihre Geräte nicht, wie das Opfer leidet, und machen gnadenlos weiter. "Da machen auch oft anständige Kinder mit, aus Angst, dass sie sonst auch gemobbt werden", sagt Kratzer.
Polizei ist meist hilflos - und sieht Eltern in der Verantwortung
Es gibt verschiedene Ansätze, um gegen die Täter vorzugehen. Cybermobbing selbst ist kein strafrechtliches Delikt, häufig handelt es sich dabei aber um den Straftatbestand der Beleidigung oder Bedrohung. Das kann allerdings nur bei strafmündigen Tätern geahndet werden. Wer unter 14 Jahre ist und andere Mitschüler digital drangsaliert, gegen den kann die Polizei strafrechtlich nicht viel ausrichten. Dann werden die Eltern eingeschaltet. "Es kommt vor, dass Eltern der Täter total uneinsichtig reagieren und das Ganze mit 'das war doch nur Spaß' abtun", sagt Kratzer. Seiner Meinung nach müssen Eltern ihrem Kind die Grenzen aufzeigen, wo der Spaß definitiv aufhört, ihm Empathie beibringen. Und sie müssen ihren Kindern ein Vorbild sein – auch in Sachen Medienkompetenz, was nicht ganz einfach ist und einiges Wissen voraussetzt, gibt Kratzer zu.
Schulen kämpfen bereits gegen das Problem Cybermobbing. "Eine Schulleiterin hat mir mal gesagt, dass es Tage gebe, an denen 80 Prozent der Arbeit mit diesem Thema zu tun hat", sagt Kratzer. Jagusch hat das Gefühl, dass Lehrer wachsamer geworden sind und Strategien und Methoden gegen Cybermobbing kennen. Zum Beispiel den No-Blame-Ansatz, durch den weder Opfer noch Täter das Gesicht verlieren sollen. Dann kommt zum Beispiel ein Herr Kratzer in die Problemklasse und erzählt in einer Art Empathienachhilfestunde, wie sich die Opfer fühlen. Häufig werde es danach besser, sagt Kratzer.
In den meisten Klassen ist der Polizist aber präventiv unterwegs, und zwar nahezu täglich im Großraum Augsburg. Selbst da stellt er fest: "In den Gesichtern sehe ich häufig, dass sie genau wissen, wovon ich rede, und dass sie das schon einmal erlebt haben, als Opfer oder als Täter."