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"Pokémon Go": Das Spiel mit der Wirklichkeit

"Pokémon Go"

Das Spiel mit der Wirklichkeit

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    Mit dem Blick durch die Smartphone-Linse erscheint die Welt bei "Pokémon Go" durch kleine Spielfiguren erweitert, die es zu fangen und zu trainieren gilt.
    Mit dem Blick durch die Smartphone-Linse erscheint die Welt bei "Pokémon Go" durch kleine Spielfiguren erweitert, die es zu fangen und zu trainieren gilt. Foto: Julian Smith, dpa

    Es ist der neuste Coup einer schnell wachsenden Branche. Das Prinzip heißt „Augmented Realitiy“, erweiterte Wirklichkeit, und bedeutet: Digitale, am Computer geschaffene Inhalte verschmelzen mit der uns umgebenden greifbaren Welt. Und dieser Coup, die neueste Verschmelzung, hat gleich für massenhafte Begeisterung gesorgt, sodass im australischen Sydney etwa die Polizei ausrücken musste, um losbrechendes Chaos einzudämmen, und die Aktien des Herstellers Nintendo dramatisch zugelegt haben, um 60 Prozent. Ein Dammbruch zwischen zwei Welten?

    Hört sich jedenfalls dramatisch und bedeutend an. Ist aber doch eigentlich nur ein Spiel. Noch dazu eines mit knuffigen Monsterchen, deren Namen manchem noch von früher in den Ohren klingeln und genervt die Augen verdrehen könnten: Pikachu, Traumato, Magnetilo … Vor 20 Jahren sind diese bunten, kuscheldrachenähnlichen „Pokémon“ (ein Kurzwort für „Pocket Monster“, Taschenmonster) auf den Spielkonsolen erschienen. Und haben bereits damals für Diskussionen gesorgt. Die Spieler mussten sie einfangen und sich dann um sie kümmern, um sie weiterzuentwickeln. Vernachlässigte Tierchen aber gingen ein, was Kritiker als Aufmerksamkeitszwang und dadurch extrem suchtgefährdend anprangerten, während zugleich echte Kontakte zu Mensch und Tier leiden würden – die Infizierten, statt in der Welt, bloß noch am Bildschirm aktiv. Wie funktioniert "Pokémon Go"?

    "Pokémon Go" kann auf jedes Smartphone geladen werden

    Die seit Mittwoch auch in Deutschland erhältliche Fortentwicklung heißt „Pokémon Go“ und ist als App auf jedes Smartphone zu laden – und löst eben genau dieses Entweder-Oder auf. Jetzt sind die digitalen Tierchen in einer Art Schnitzeljagd in den Straßen unserer wirklichen Städte einzufangen, um sie dann zu trainieren und gegen andere im Kampf antreten zu lassen.

    Und das geht so: Über 700 verschiedene Typen von Pokemons sind unter ständig neuen Satelliten-Koordinaten unzähliger Orte hinterlegt (wie bei der bereits verbreiteten Schatzsuche namens Geocaching). Wer die App installiert hat und sich einem solchen Ort nähert, bei dem schaltet das Programm – wenn er sich nicht ohnehin schon durch die Zielkarte leiten lässt – automatisch die Handykamera an. Die zeigt auf dem Bildschirm die Live-Aufnahme des wirklichen Ortes, erweitert durch den programmierten digitalen Inhalt – ein Pokémon, das auf einem Baum im Park oder mitten auf dem Rathausplatz sitzt oder ein spezielles Wasser-Pokémon, das vor allem in der Nähe von Flüssen und auf Seen zu finden ist. Und dann braucht der Spieler nur noch Werkzeug wie sogenannte „Pokeballs“, um die Wesen einzufangen. Auch die kann man unterwegs finden oder auch für echtes Geld beim Hersteller kaufen. Mit dem gefangenen und durch Wischspiele am Handy trainierten Pokémon kann man sich auf ausgewiesenen Kampfplätzen treffen und gegen andere Monsterchen-Inhaber antreten.

    Gefahren von "Pokémon Go"

    So weit, so witzig oder so albern – Geschmackssache. Und doch gibt es bereits viele Warnungen vor unmittelbaren Gefahren. Alle möglichen Daten und ein komplettes Bewegungsprofil des Nutzers werden unweigerlich durch das Spiel mitübertragen. Es sollen auch bereits schon erste Fälle vorgekommen sein, in denen sich Kriminelle solche Pokémon-Plätze zunutze gemacht haben, um unaufmerksame, weil komplett durch ihren Smartphone-Bildschirm gebannten Drachenjäger auszurauben. Aus denselben Gründen befürchten städtische Ordnungsdienste eine deutlich erhöhte Unfallgefahr durch in verdoppelter Wirklichkeit spielende, aber dadurch höchstens halb anwesende Verkehrsteilnehmer.

    Darüber hinaus stellt sich die Frage: Wo endet das Spielfeld Wirklichkeit? Firmengelände und Privatgrundstücke sind rechtlich geschützt, wurden aber bereits öfter einbezogen. Es droht massenhafter Hausfriedensbruch, siehe Sydney. Und dann sind da noch Erfahrungen mit einem früheren Spiel nach dem Prinzip der „Augmented Reality“. Bei „Ingress“ (was nicht umsonst so viel heißt wie „Eindringen“) treten zwei Lager in Missionen gegeneinander an und müssen sich stets neue virtuelle Portale sichern – und von denen lagen einige auf Friedhöfen und auf KZ-Gedenkstätten in Deutschland und Polen.

    Letzteres immerhin ist vom Entwickler, dem gleichen wie bei „Pokémon Go“ (Niantic Labs), inzwischen verunmöglicht worden. Aber die Grundsatzfrage wird bleiben, ebenso die Suche nach einem besonderen Kitzel. Zumal dieses Spielprinzip nicht nur aufgrund des Erfolges das Modell der Zukunft ist. Dass das Verhältnis der Menschen zu schnöden „unerweiterten“ Wirklichkeit darunter leiden könnte; dass das Zeitalter der unablässigen Zerstreuung und Ablenkung immer neue Spitzen erreichen wird; dass die Suchtgefahr … – ist das bloß Spielverderber-Denken?

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