Die kleinen, praktischen Schritte sind so selbstverständlich geworden, dass drohende Folgen im Großen leicht zu abstrakt wirken. Wir gehen rein. Verwenden Suchmaschinen, finden Informationen, kommunizieren und konsumieren – alles ist nur einen Klick entfernt und selbstverständlich kostenlos. Ein kleines Unbehagen beschleicht uns vielleicht, wenn wir an die Preisgabe persönlicher Daten denken oder an die Verletzung von Urheberrechten. Der Nutzen des Netzes hat eben auch seine Schattenseiten. Was aber, wenn der Preis viel höher ist? Wenn das Internet persönliche Freiheit und gesellschaftliche Ordnung bedroht?
Was natürlich erst mal Quatsch ist. Denn auch wenn Bild am Sonntag kürzlich „Das Internet verhöhnt unsere Olympia-Sportler“ titelte – das Netz ist kein Subjekt, es ist ein Medium. Und stand es nicht als solches – global, allgemein zugänglich, hierarchielos – gerade für die Vision von Freiheit und Demokratie?
Jaron Lanier war einer ihrer Väter. Er hat das Internet in den 80ern mitentwickelt, ist der Erfinder des Begriffs der „virtuellen Realität“ wie des Datenhandschuhs zu dessen Steuerung. Heute 53 ist er noch immer die schillerndste Figur der amerikanischen Fortschrittsfabrik Silicon Valley. Von ihm stammt auch die Idee, dass das Netz ein Segen auch für alle Urheber geistiger Werke werden kann, weil Bücher, Musik und Filme dort ohne Lagerkosten über Jahre hinweg weiterverkauft werden könnten. Dieser Jaron Lanier aber wirkt nun wie Goethes Zauberlehrling, für den sich die Magie der gerufenen Geister zur Schreckensversion verkehrt hat, wenn er sagt: „Als Menschen begannen, Auto zu fahren, dauerte es eine Weile, bis sie realisierten, dass sie einen Anschnallgurt brauchten. In dieser Phase sind wir jetzt: Wir müssen aufpassen, dass unsere Euphorie, alles tun zu können, was wir wollen, nicht einen globalen Unfall nach sich zieht.“ Denn was er jetzt in seinem Buch „Wem gehört die Zukunft?“ beschreibt, ist eine große Gefahr. Sie entfaltet ihr mächtiges Drohpotenzial in vier Schritten.
Der erste Schritt: Durch kostenlose Programme gelockt nutzen wir die Möglichkeiten des Internets und stellen dabei auch unsere Informationen unweigerlich kostenlos zur Verfügung. Die Vision der freien Plattform. Internetfirmen aber generieren daraus Wissen, indem Rechner automatisch kostenlos Eingespeistes auswerten wie etwa in Übersetzungsmaschinen. Und sie machen sich die Daten ihrer Nutzer zunutze für Werbung und Verkauf, Marktanalysen und Dienstleistungen. Die Nutzer, ihre Daten und ihr Wissen sind das Kapital dieser Unternehmen – Geld und Macht aber bleibt ihnen allein.
„Du bist nicht der Kunde der Konzerne. Du bist ihr Produkt“
Der zweite Schritt: Zu Beginn des Computerzeitalters hatte Apple damit geworben, die Maschine sei ein „Fahrrad für den Verstand“, bewege sich mit dem Nutzer individuell, tauge zur freien Entfaltung. In der längst hauptsächlich konsumierenden Masse aber bestimmen die angebotenen Programme die Nutzung: Der Mensch speist sich nur noch in die von Unternehmen angebotenen Masken ein, vor allem bei den auf feste Oberflächen festgelegten Tabletts. Lanier schreibt: „Du bist nicht der Kunde der Internetkonzerne. Du bist ihr Produkt.“
Der dritte Schritt: Für den Profit, den die Unternehmen machen, und die Macht, die sie entfalten, benötigen sie nur noch wenige Mitarbeiter. Als Facebook kürzlich 19 Milliarden Dollar für WhatsApp bezahlte, hatte die übernommene Firma gerade mal 55. Das Kapital und Lieferanten sind die Nutzer, die Arbeit erledigen die Superrechner der Unternehmen. Lanier nennt sie „Sirenenserver“ und beziffert ihre Zahl weltweit auf ein Dutzend. Mögen die Daten der Milliarden Nutzer gewaltig sein – gegen die Kontrolle dieser Rechnermacht brandet das Chaos vergebens. Sie werten Ströme nach Algorithmen aus, die wiederum auf Prinzipien aufbauen: Sie kategorisieren Menschen, sind auf Effizienz programmiert, bei möglichst geringem Risiko. Lanier nennt als Beispiel die Banken und deren computerbasierten Hochgeschwindigkeitshandel sowie die US-Krankenversicherungen. Einst warben sie möglichst viele Menschen als Mitglieder, um das Risiko gleichmäßig zu verteilen, heute bevorzugen sie nur wenige Ausgewählte, bei denen die Daten ein geringes Krankheitsrisiko vorhersagen.
Der vierte Schritt: Das Wachstum der Branche und die stetig steigenden technischen Möglichkeiten führen ins Desaster. Die Computerleistung verdoppelt sich in der Spitze jährlich nicht nur, sie potenziert sich: Aus 4 Millionen Arbeitsprozessen pro Sekunde werden nicht 8 oder 4 mal 4 also 16 Millionen, sondern 4 Millionen mal 4 Millionen, also 16 Billionen. Tatsächlich haben Hochleistungsrechner heute schon die Billiarden erreicht. So steigt die Macht. Zudem greift die Branche längst auf andere Zweige über durch Robotik und Automatisierung, auf Einkauf und Logistik, in Autos und Altenpflege. 3-D-Drucker übernehmen die Produktion, Programme die Energieregulierung, die Datenkontrolle optimiert die Entwicklungen der Medizin.
Lanier spricht von der „vielleicht letzten industriellen Revolution“. Im Grunde die Verwirklichung des Marx’schen Traums, dass die Automatisierung der Arbeit den Menschen befreien könnte – nur ist es dessen Verkehrung in die Versklavung. Denn Macht und Profit liegen ja nicht in den Händen der Staaten. Sondern bei wenigen Unternehmen, die wiederum mit wenigen Mitarbeitern auskommen. So sieht Lanier einen „neuen Feudalismus“ kommen, die Herrschaft des Geldes der wenigen, und andererseits: „Hyper-Arbeitslosigkeit“. Denn warum sollten sich Firmen plötzlich um die Risiken scheren, die sie bereits heute aus Prinzip weiterreichen? Auch nach Marx: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert.
Vier programmierte Schritte in den „globalen Unfall“ also? Woher aber kommt der Anschnallgurt, Herr Lanier? Der Visionär setzt am letzten Schritt an. Die Unternehmen seien auch auf eine funktionierende Mittelschicht angewiesen, als Kunden nämlich. Das habe schon Auto-Pionier Henry Ford erkannt, dass nur die Masse für Erfolg sorgen könne. Also fordert Lanier: die Kapitalisierung des Internets. Um die Leistungen der Nutzer, die zu Profit und Macht der Unternehmen führen, in Wert zu setzen, müsse dafür bezahlt werden. In Kleinstsummen nur, aber für ein großes Umsteuern: Die Wirtschaft würde rückgekoppelt an die Menschen, diese würden mitprofitieren.
Laniers Lösung würde den Tod des freien Netzes besiegeln
Dass dies das Ende der ursprünglichen Vision des Internets wäre, ist Lanier bewusst. Nach ihm ist die allerdings ohnehin tot, die Idee vom hierarchiefreien Medium „endgültig vorbei“. Sein deutscher Kollege Sascha Lobo meinte kürzlich dasselbe, als er sagte: „Das Internet ist kaputt.“ Lanier sagt: „Für viele Menschen ist das Netz heilig, aber das ist es nicht, es ist veränderbar, es hat Fehler, die müssen wir beheben.“
Aber ob auch die Nutzer – die kleinen, praktischen, kostenlosen Schritte gewöhnt – dazu bereit sind? Lanier rät jedem, mal für eine Stunde, einen Tag, eine Woche zu testen, was sich ändert, wenn man auf das Kostenlose verzichtet und für die in Anspruch genommenen Leistungen bezahlt. Er setzt auf eine Revolution gegen die Bequemlichkeit im Kleinen aus der Verantwortung im Großen. Er setzt auf die Vernunft.
Letztlich auch bei den Mächtigen. Aber hatten diese nach der Bankenkrise nicht auch den Vorschlag auf dem Tisch, den Hochfrequenzhandel durch Mikrosteuern zu bändigen? Und haben sie sich angesichts der Schäden für die Allgemeinheit verständigt? Lanier sagt, im Silicon Valley, wo auch die reichsten Menschen der Welt leben, habe er mit seiner Idee die Erfahrung gemacht: „Ich würde nicht sagen, dass sie mir zustimmen, aber jedes Jahr wehren sie sich ein bisschen weniger.“
Jaron Lanier: „Wem gehört die Zukunft?“ Hoffmann und Campe, 480 S., 24,99 Euro