Am Donnerstag um 11.44 Uhr ist der Albtraum vorbei, der verunglückte Johann Westhauser ist zurück im Leben – und sieht nach mehr als 274 Stunden das Tageslicht wieder. Damit endet eine Rettungsaktion, wie es sie noch nie gegeben hat. Es sind Stunden voller Emotionen, die Höhlenretter haben bis zur Erschöpfung gekämpft – und gewonnen. Als der 52-jährige Höhlenforscher Westhauser, der aus dem Raum Stuttgart stammt, am Pfingstwochenende zusammen mit zwei Freunden in die Riesending-Höhle bei Berchtesgaden gestiegen ist, hat er sicher nicht damit gerechnet, ein Kapitel alpiner Rettungsgeschichte zu schreiben.
Rettung aus Riesending-Höhle: "Kein Rettungskollaps durch Euphorie"
Am Mittwoch haben die Retter noch gehofft, Westhauser schon in der Nacht ins Freie schaffen zu können. Von einem Zeitfenster zwischen 22 Uhr und den frühen Morgenstunden ist die Rede. Denn der Rettungstrupp mit Westhauser kommt schneller voran als eigentlich geplant. Doch in der Nacht verzögert sich die Aktion – eine letzte Nervenprobe. „Wir haben bewusst die letzte Phase bedächtig gestaltet, um durch eine Euphorie keinen Rettungskollaps zu verursachen“, erklärt Klemens Reindl, Gesamteinsatzleiter der Bergwacht Bayern.
Die langwierige Rettung des Höhlenforschers
7. Juni: Ein dreiköpfiges Team von Forschern, darunter der 52-jährige Westhauser, steigt in die fast 1100 Meter tiefe Riesending-Schachthöhle bei Berchtesgaden.
8. Juni: Gegen 1.30 Uhr kommt es zu einem Steinschlag, bei dem Westhauser an Kopf und Oberkörper verletzt wird. Er erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. Ein Kollege beginnt einen zwölfstündigen Aufstieg, um Hilfe zu holen.
9. Juni: Vier Bergretter erreichen erstmals das Lager des Verletzten. Westhauser sei ansprechbar, «aber es geht ihm nicht gut», berichtet die Bergwacht. Ein Arzt, der zu dem Verletzten aufbricht, muss aufgeben.
10. Juni: Vier Schweizer, die auf die Rettung aus Schächten spezialisiert sind, erreichen Westhauser. Ein österreichischer Arzt macht sich mit drei Bergrettern auf den Weg in die Tiefe. Ein erster Lichtblick: Dem Verletzten gehe es wohl besser als zunächst vermutet, heißt es.
11. Juni: Ein weiterer Mediziner steigt zu Westhauser hinab, am Nachmittag erreicht der Österreicher den Verletzten.
12. Juni: Der zweite Arzt trifft ein. Die Mediziner entscheiden: der Patient kann transportiert werden.
13. Juni: Nach fünf Tagen beginnt am späten Nachmittag der Transport des Verletzten auf einer Trage.
14. Juni: Das Rettungsteam schafft die erste Etappe und erreicht gegen 4.00 Uhr Biwak 5, den ersten Rastplatz.
15. Juni: Die Helfer bewältigen die «Lange Gerade», die etwa 900 Meter unter der Oberfläche Hunderte Meter fast waagerecht durch den Berg führt. Der Trupp erreicht Biwak 4. Nun beginnt der schwierige Teil: Der Trupp muss Westhauser an der mitunter senkrecht nach oben führenden Wand in die Höhe ziehen.
16. Juni: Das Team erreicht das dritte Lager in rund 700 Metern Tiefe. Nach einigen Stunden Pause geht es weiter.
17. Juni: Die Rettung geht rascher voran als erwartet. Die Einsatzkräfte erreichen mit Westhauser am Morgen Biwak 2 in rund 500 Metern Tiefe. Etwa 15 Mann sind mit dem Verletzen unterwegs, Dutzende andere bauen den Weg aus.
18. Juni: Am Morgen kommt der Trupp am Biwak 1 an. Bereits in der Nacht zum Donnerstag sollten die Retter mit Westhauser den Höhleneingang erreichen.
19. Juni: Die erlösende Nachricht: Westhauser und seine Retter haben um 11.44 Uhr den Höhlenausgang erreicht - gut 274 Stunden nach dem Unfall.
Außerdem hat es das letzte Stück der Riesendinghöhle noch einmal in sich. Nach einem 180 Meter hohen Schacht muss das Team durch zwei kleinere Schächte, die durch eine Engstelle verbunden sind. Erneut muss der schwer verletzte Westhauser mithelfen, der durch einen Steinschlag ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hat. Die Trage, auf die er mumiengleich geschnallt ist, muss oft auch senkrecht geführt werden. „Außerdem ist der obere Teil der Höhle sehr steinschlaggefährdet“, berichtet Reindl.
Westhauser in ambulanter Krankenstation untersucht
Dann endlich, das Tageslicht. Ärzte untersuchen Westhauser in der ambulanten Krankenstation, die sie in den Bergen aufgebaut haben. Durch ein Spalier aus Helfern wird der Verletzte auf seiner Trage zum knapp 100 Meter entfernten Hubschrauber transportiert. Dort hilft der Arzt Nico Petterich mit, Westhauser in den Hubschrauber zu laden. „Da gibt es dann eine ganz lustige Geschichte“, erzählt Petterich später. Als der Helikopter in Richtung Unfallklinik Murnau abhebt, will er dem Patienten Westhauser eigentlich einen Kopfhörer gegen den Fluglärm aufsetzen. „Da sagt er mir: Könntest du den Piloten bitten, dass er noch zweimal am Störhaus vorbeifliegt.“
Das Störhaus ist eine Alpenvereinshütte knapp eine Dreiviertelstunde vom Höhleneingang entfernt. Dort hält sich Westhauser auf, wenn er eine seiner Höhlenexpeditionen antritt. Leider kann Petterich dem Geretteten diesen Wunsch nicht erfüllen, der Pilot hat bereits einen anderen Kurs eingeschlagen. Dass ein Hubschrauber jemals mit dem Verunglückten in Richtung Krankenhaus fliegen würde, damit hat bei der Bergwacht Bayern am Anfang kaum einer gerechnet, gibt Reindl ehrlich zu. „Die Bergwacht konnte sich bis dahin einen Einsatz in dieser Dimension nicht vorstellen.“
728 Rettungskräfte bei Höhlendrama im Einsatz
Denn für den Weg in 1000 Meter Tiefe benötigt selbst ein erfahrener Höhlenkletterer zwölf Stunden. „Für einen Schwerverletzten ist das eigentlich ein Unding“, sagt Reindl. So ist vor allem für die Kollegen im Tal das Warten auf neue Meldungen aus dem Inneren der Höhle nervenaufreibend. „Ein Polizist hat gesagt, es ist wie Weihnachten und Ostern zusammen und alle warten auf das Glöckchen“, erzählt Roland Ampenberger von der Bergwacht Bayern. So ungefähr müssen sich auch die 728 Rettungskräfte gefühlt haben, die die Aktion von außen unterstützten. Insgesamt 202 Höhlenretter waren in der Höhle – 89 Italiener, 42 Österreicher, 27 Deutsche, 24 Schweizer und 20 Kroaten.
Eine der Retterinnen ist Sabine Zimmerebner, 43 Jahre, Mutter einer Tochter und selbst Höhlenforscherin. Sie ist Leiterin eines Kindergartens in Salzburg. „Ich habe also gute Nerven. Die habe ich dort unten gut einsetzen können“, sagt Zimmerebner – und muss lachen. Sie kennt Johann Westhauser durch die gemeinsame Leidenschaft, das Höhlenerforschen. Sie will, dass beim Abtransport wenigstens ein bekanntes Gesicht an der Seite des Verletzten ist. „In dieser Situation braucht er eine Person, die ihn positiv aufbaut“, erklärt Zimmerebner. Sie hält seine Hand, spricht mit ihm und macht auch mal einen Scherz. „Es ist nicht so ernst zugegangen, wie man sich das vielleicht vorstellt“, sagt Zimmerebner. Von Freitag bis Mittwoch weicht sie Westhauser nicht von der Seite.
Psychologische Betreuung für Johann Westhauser
Auch der Berchtesgadener Rettungssanitär Stephan Bauhofer begleitet den Transport des Verletzten ein Stück. Er betreut Westhauser vor allem psychologisch. „Es ist für den Patienten nicht so lustig, zehn Tage in einer Trage zu liegen“, sagt Bauhofer. Er macht dem Schwerverletzten Hoffnung, dass der Rettungstrupp es bis nach oben schafft. Und er versucht, Westhauser jede anstehende Engstelle schonend beizubringen. Als er ihm einredet, dass dies nun die letzte anstrengende Stelle sei, funktioniert das nicht. Zu gut kennt Johann Westhauser jeden Winkel der Riesendinghöhle, berichtet der Rettungssanitäter. Als sie – 274 Stunden später – den Ausgang erreichen, fallen sich die Helfer in die Arme. Sie strahlen, erschöpft – und doch glücklich. Viele haben Tränen in den Augen.
Die restlichen Höhlenretter, die einen Teil der Materialien aus der Höhle räumen, verlassen im Laufe des Tages die Höhle. Sie steht nun unter Kontrolle der Polizei. Es muss geklärt werden, ob Ermittlungen zum Unfall eingeleitet werden. Innenminister Joachim Herrmann will den Zugang zur Höhle künftig ganz sperren lassen. Aus Angst, neugierige Touristen könnten sich in die Höhle wagen. „Technisch ist es einfach, und rechtlich halte ich es angesichts der extremen Gefahren, die damit verbunden sind, für geboten“, sagt er gestern.
Von diesen Plänen hat Westhauser noch nichts mitbekommen. Er ist wohlbehalten in der Unfallklinik Murnau angekommen, hat erste Untersuchungen hinter sich. Dem Arzt Nico Petterich hat er seinen Dank an die Lebensretter mitgegeben. Und ein Versprechen: „Er hat meine Hand genommen und gesagt, dass er jeden Einzelnen anrufen wird“, erzählt der Mediziner, „das wird ein paar Wochen dauern.“ Offenbar ist Westhauser noch nicht klar, dass an die 1000 Menschen an seiner Rettung mitgewirkt haben.