Professor Steinig, jahrzehntelang war es undenkbar, dass Schüler ihre Lehrer duzen. Wie sieht es heute an deutschen Schulen aus?
Wolfgang Steinig: Deutschland ist in dieser Hinsicht ein Flickenteppich. In den Bundesländern im Norden liegt die Duz-Rate an Grundschulen bei bis zu 90 Prozent. In Bayern und Baden-Württemberg duzen etwa 40 Prozent der Schüler ihre Lehrer. Im Osten dominiert das Sie fast komplett. An manchen Grundschulen gibt es auch noch die Kombination „Du, Frau Müller“. Das haben wir aber in unserer Studie nicht untersucht.
Sie sagen, dass Kinder in der Schule besser sind, wenn sie ihren Lehrer siezen. Das müssen Sie erklären.
Steinig: Wir waren selbst überrascht, dass die Zusammenhänge so deutlich sind. Aber sehen Sie sich die Vergleichsstudien an: Schüler aus Sachsen und Bayern bringen die besten Leistungen – aus Ländern also, in denen die Kinder ihre Lehrer meistens siezen. Duz-Länder wie Bremen und Hamburg schneiden mit am schlechtesten ab. Die Anrede ist ein zuverlässiges Zeichen dafür, welche Beziehung Lehrer zu ihren Schülern haben und wie konsequent sie Leistungen einfordern.
Was ist besser am Sie als am Du?
Steinig: Kinder, die Sie zu ihrem Lehrer sagen, müssen sich um ein formelleres Sprachniveau bemühen. Wenn wir jemanden siezen, überlegen wir genauer, wie wir unsere Sätze planen. Die Schüler passen ihre Sätze eher der Schriftsprache an. Je früher Kinder das lernen, desto leichter fällt es ihnen, angemessen zu formulieren und Texte zu schreiben. Sie lernen so auch, sich höflicher und respektvoller zu äußern. Beim Du ist das Sprachverhalten viel lockerer, oft auch flapsig.
Kann man im Umkehrschluss etwa sagen, alle Lehrer sollten sich siezen lassen und alle Schüler würden besser?
Steinig: Nein, das wäre zu einfach. Die Sprachebene ist nicht alles. Siezen und Duzen sind Indikatoren für ein tiefer liegendes, grundsätzliches Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Wir haben uns auch angesehen, wie die einzelnen Schulen pädagogisch arbeiten. An Duz-Schulen geht es vor allem um die Bedürfnisse des Kindes. Sie werben damit, dass Kinder sich an ihrer Schule wohlfühlen sollen und soziale Kompetenzen vermittelt werden. Auch beim Schreiben haben Kinder dort meist größere Freiheiten, dürfen in den ersten Schuljahren zum Beispiel nach Gehör schreiben. Siez-Schulen legen von Anfang an mehr Wert auf Rechtschreibregeln. Auch sonst ist ihr pädagogisches Konzept stark darauf ausgerichtet, dass die gültigen Bildungsstandards eingehalten werden.
Sie sagen, dass Kinder durch die formelle Anrede lernen, sich höflicher zu auszudrücken. Sollten sie nicht schon im Elternhaus vermittelt bekommen, wie sie mit Erwachsenen respektvoll reden?
Steinig: Kinder aus höheren sozialen Milieus lernen auch außerhalb der Schule, sich müheloser auf der Sie-Ebene zu äußern. Aber für Kinder aus niedrigen sozialen Milieus, die oft auch einen Migrationshintergrund haben, ist es besonders wichtig, dass sie in der Schule lernen, vom Du zum Sie umzuschalten. Der Lehrer denkt vielleicht, dass sich diese Schüler darüber freuen würden, wenn sie in der Schule so reden dürfen, wie sie es von zu Hause oder aus dem Kindergarten gewohnt sind. Daraus kann man ihm keinen Vorwurf machen, aber so können diese Kinder ihr sprachliches Niveau nicht verbessern. Wenn alle von Anfang an lernen, sich sprachlich angemessen auszudrücken, führt das zu mehr Chancengleichheit.
In anderen Sprachen, Englisch zum Beispiel, gibt es die Unterscheidung zwischen Du und Sie gar nicht. Wie steht es dort um das Schüler-Lehrer-Verhältnis?
Steinig: In jeder Sprache gibt es Respektformulierungen. Im Englischen zum Beispiel nutzt man sehr viel häufiger Höflichkeitsformeln wie „please“ und „thank you“. Die Lehrer dort sind darüber hinaus weitaus förmlicher gekleidet als bei uns. Kinder tragen meist Schuluniformen und nehmen dadurch schon rein äußerlich ihre Rolle als Schüler ein, zu der auch ein Sprachverhalten gehört, das für den Unterricht angemessen ist.
Zur Person: Wolfgang Steinig ist Germanist an der Universität Siegen, Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften. Für die Studie recherchierten Steinig und sein Team jeweils an zwei Grundschulen aus jedem der 299 Bundestagswahlkreise. Die Ergebnisse sind nachzulesen im Buch „Grundschulkulturen: Pädagogik – Didaktik – Politik“. Es erscheint im Erich-Schmidt-Verlag.