Es gibt Nächte, in denen Herbert Siegel schlecht schläft. Weil er weiß, was ihn am nächsten Morgen erwartet. Was seinen Rindern bevorsteht. „Es ist jedes Mal ein Graus für mich“, sagt der Biobauer aus Missen im Oberallgäu. Wenn er seine Tiere, die den Großteil des Jahres auf der Weide stehen, in einen Viehwagen verladen muss, wenn er sie 20 Kilometer zum Schlachthof nach Kempten fahren muss. „Unsere Tiere sind das nicht gewohnt“, erklärt Siegel. Und dass die Prozedur für sie Stress bedeutet. Weil sie aus ihrer Herde herausgerissen werden, weil ihnen der Transport Angst mache. Weil sie der Ablauf im Schlachthof aufregt – wo sie den Treibgang entlang müssen, die Schreie der anderen Tiere hören und ihr Blut riechen.
Siegel ist Realist. Er weiß, dass Schlachten zur Tierhaltung gehört. Und zum Kreislauf der Landwirtschaft. Trotzdem sagt er: „Unsere Tiere haben das Recht, dass sie bis zur letzten Sekunde würdevoll behandelt werden.“ Der 50-Jährige macht sich seit Jahren Gedanken, wie er den Tieren all das ersparen kann. Und er hat, gemeinsam mit anderen Landwirten aus der Region, eine Lösung gefunden: Er bringt den Schlachthof zum Tier.
Das System „mobile Schlachtbox“ erspart den Rindern Stress
Das System, das den etwas sperrigen Namen „mobile Schlachtbox“ trägt, funktioniert so: Das Rind wird in seiner gewohnten Umgebung, auf der Weide, durch einen Schuss in den Kopf betäubt. Danach kommt es in die Schlachtbox – eine Art Anhänger am Traktor –, wo es gestochen wird. Spätestens eine Stunde später muss das tote Tier im Schlachthof sein, wo es wie üblich ausgeweidet und zerteilt wird.
Siegel ist überzeugt von diesem Weg. Weil er es mit seiner Verantwortung als Landwirt vereinbaren kann – „wenn das Tier ohne Stress stirbt, ohne Transport, wenn es einfach umfällt, ohne zu wissen, was passiert“. Weil auch das Fleisch hochwertiger ist – heller, aromatischer, länger haltbar –, wenn die Tiere bei der Schlachtung keine Stresshormone ausschütten, wie zahlreiche Untersuchungen belegen. Mit anderen Bauern hat Siegel die „Interessengemeinschaft Stressfreies Schlachten“ gegründet und eine Schlachtbox bestellt. Die Allgäuer wären die Ersten im Freistaat.
Seit Jahren müht sich Siegel, die Zulassung dafür zu bekommen – zusammen mit der Genehmigung, die Tiere auf der Weide schießen zu dürfen. Die Vorgaben der EU würden beides unter bestimmten Voraussetzungen zulassen, sagt Siegel. Doch vom Landratsamt Oberallgäu und der Regierung von Schwaben gab es bislang kein Okay.
Ernst Hermann Maier kennt Siegels Fall – und auch die Kämpfe mit den Behörden. Als „Rebell von Balingen“ hat sich der Biobauer einen Namen gemacht. Weil er sich weigert, seine Uria-Rinder mit Ohrenmarken zu kennzeichnen. Weil er 13 Jahre lang mit den Behörden gerungen hat, um seine Tiere auf der Weide schießen zu dürfen – und noch länger, um sie auch vor Ort schlachten zu dürfen. Zusammen mit einem Unternehmen hat Maier die mobile Schlachtbox entwickelt und vertreibt sie heute über den Verein Uria. Die Nachfrage nach den 15.000 Euro teuren Boxen ist hoch, berichtet Maier. Verkauft hat er aber erst eine Handvoll. „Das Modell wird von den Behörden boykottiert“, behauptet Maier.
Bio-Bauer Siegel kämpft mit den Behörden um die Genehmigung
In Siegels Fall ist die Genehmigung unter anderem daran gescheitert, dass seine Tiere nicht das ganze Jahr über im Freien sind – wie das bei Maier der Fall ist und wie es die Tierschutzschlachtverordnung voraussetzt. Das aber geht hier, in dieser Höhenlage, nicht, sagt der Landwirt. „Wir brauchen eine gewisse Zeit im Jahr, wo wir die Tiere im Stall halten.“ Trotzdem ist der Biobauer überzeugt, dass er die Genehmigung bekommt – irgendwann.
Inzwischen ist Siegel wieder in Gesprächen mit der Regierung von Schwaben. Und er hat Unterstützung bekommen. Bettina Nevermann, die bei Siegel ihr Fleisch kauft, hat eine Online-Petition gestartet. Sie will auf diese Weise den Druck auf die Behörden erhöhen, um Bauern wie Siegel „Stressfreies Schlachten“ zu ermöglichen. „Wir brauchen einen Präzedenzfall.“
Siegel, der der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL) im Allgäu vorsteht, geht es nicht darum, eine Konkurrenz zu den großen Schlachthöfen zu etablieren – oder die Arbeit anderer Bauern zu kritisieren. „Ich habe kein Problem damit, wenn jemand seine Tiere in den Schlachthof bringt. Nur ich will das nicht.“
Und die Verbraucher? Siegel hat die Erfahrung gemacht, dass viele das Thema ausblenden. Dass so mancher Bio kauft und denkt, dass er so die bessere Alternative wählt. An der Schlachtung aber ändert das nichts, stellt Siegel klar. „Auch bei Bio werden die Tiere nicht zu Tode gestreichelt.“ Hochwertiges Fleisch aber hat seinen Preis – erst recht, wenn die Tiere stressfrei sterben. Mindestens 14 Euro verlangt Siegel für das Kilo junges Rindfleisch. Er ist überzeugt, dass es das wert ist, zum Wohl der Tiere.