Diese Geschichte beginnt mit dem Kratzen von Metall auf hartem Stein. Am 19. Juni 2008 trifft auf einer Baustelle in der Altstadt von Kempten eine Baggerschaufel auf eine im Untergrund verborgene Wand. Doch es ist nicht nur eine einzelne Wand, die wenige Zentimeter unter der Oberfläche zum Vorschein kommt - es ist eine ganze Ruine - die Ruine der längst verloren geglaubten mittelalterlichen Kapelle St. Erasmus.
Es ist eine Friedhofskapelle, deren Bauweise, Alter, Nutzung und Geschichte so markant für die Vergangenheit Kemptens steht, dass sie jetzt, wie die Fachleute sagen, zu einem in der Region einzigartigen Museumsprojekt geworden ist. An der Fundstelle ist ein unterirdischer archäologischer Schauraum entstanden, in dem Licht- und Tontechnik, die vor über 700 Jahren zusammengefügten Steine zum Sprechen bringen sollen. Nach zweijähriger Bauzeit wird er an diesem Wochenende eröffnet. 1,7 Millionen Euro hat das Projekt samt der archäologischen Untersuchungen gekostet.
Tiefschwarz ist der Eingang in die mystisch beleuchteten Ruinen gehalten. Der Besucher soll eine Reise antreten, 23 Stufen hinab in den Untergrund und zurück bis in die Römerzeit vor 2000 Jahren.
"Geschichte muss heute inszeniert werden, um zu begeistern", ist die Kemptener Historikerin Birgit Kata überzeugt. Es muss für Spannung gesorgt werden mithilfe von Rahmenhandlungen, moderner Technik, Fühl- und Tastbarem wie den Originalmauern, und auch mit Geheimnisvollem wie den 50 Skeletten, die hinter der Chormauer bestattet wurden und einsehbar sind.
Über 1300 Jahre alt ist das älteste der 700 geborgenen Skelette. Für die Kemptener Geschichtsforscher ist dies nichts weniger als eine Sensation. Denn speziell aus dieser Zeit ist kaum etwas bekannt. Niemand wusste, dass die Anfänge des einstigen Friedhofs so weit zurückreichen. Im dritten und vierten Jahrhundert hatten die Alemannen das antike Kempten bis auf die Grundmauern zerstört. 752 wurde auf den Ruinen ein Kloster gegründet. Die neueste Radiokohlenstoffdatierung zeigt: Den Friedhof muss es schon davor gegeben haben.
Der St.-Mang-Platz, unter dem sich die Erasmuskapelle heute befindet, ist einer der Schauplätze der jahrhundertelangen und mitunter auch blutigen Rivalität zwischen der protestantischen Freien Reichsstadt und der von einem katholischen Fürstabt regierten Stiftsstadt. Erst die Säkularisation im frühen 19. Jahrhundert führte zur Verschmelzung der beiden getrennten Orte zur Stadt Kempten.
Die Ruinen im Schauraum führen diese bewegte Geschichte vor Augen: Über die Jahrhunderte wird aus der einst katholischen Friedhofskapelle, in deren Untergeschoss bis ins 14. Jahrhundert Bestattungen stattfinden, eine Trinkstube des protestantischen Stadtrats. 1857 dann der Abriss - der dennoch genügend übrig lässt, um Dr. Hanns Dietrich vom Landesamt für Denkmalpflege 2009 sagen zu lassen: "Abgesehen von Regensburg fallen mir in der Nähe sonst keine mittelalterlichen Funde dieser Güte ein." Ralf Lienert