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Atom-Katastrophe: Tschernobyl: Als die Wolke nach Bayern zog

Atom-Katastrophe

Tschernobyl: Als die Wolke nach Bayern zog

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    Tschernobyl 1986: Das zerstörte Atomkraftwerk nahe der ukrainischen Stadt Prypjat nach der Explosion in Block vier. Das Dach des Meilers, in dem sich 180000 Tonnen hoch radioaktives Material befanden, wird zerstört.
    Tschernobyl 1986: Das zerstörte Atomkraftwerk nahe der ukrainischen Stadt Prypjat nach der Explosion in Block vier. Das Dach des Meilers, in dem sich 180000 Tonnen hoch radioaktives Material befanden, wird zerstört.

    Augsburg Es war ein verregneter Samstag gewesen, dieser 26. April 1986. Nur am Alpenrand schien noch die Sonne, im übrigen Bayern regnet es. In der Region war der Tod von Hermann Gmeiner ein Thema, er hatte 1955 in Dießen am Ammersee das erste SOS-Kinderdorf Deutschlands gegründet und war an dem Samstag gestorben.

    Es dauerte drei Tage, bis die Medien am 29. April den kurzen Hinweis auf ein „Unglück in einem Atomkraftwerk der ukrainischen Stadt Tschernobyl mit möglicherweise schweren Folgen“ brachten. Tschernobyl – das Schreckenswort. Schon einen Tag darauf meldeten die Nachrichtenagenturen den GAU in dem bis dahin völlig unbekannten Ort: Der Kern eines der vier Reaktoren in dem sowjetischen Atomkraftwerk sei durchgeschmolzen, „vermutlich am Samstag“, zwei Menschen seien tot und Behörden zufolge „bestehe für Bayerns Bevölkerung keine Gefahr“.

    Die Fakten: Der Reaktor explodierte am 26. April um 1.23 Uhr; im Raum Tschernobyl starben 31 Menschen in den ersten drei Monaten, die Krebsrate bei Kindern stieg auffällig an und die Region ist auf Jahrzehnte radioaktiv verseucht.

    Als westliche Medien die ersten knappen Nachrichten über die Katastrophe verbreiten, zieht die radioaktive Wolke schon über Bayern. Ein Tief aus Italien lässt das langlebige Cäsium-137 aus der Wolke vor allem über dem südlichen Bayern abregnen. Doch nicht der ganze Freistaat wurde damals gleich stark kontaminiert. Als besonders belastet gelten Teile des Bayerischen Waldes entlang der tschechischen Grenze, das Berchtesgadener Land, der südliche Landkreis Miesbach und eine große Zone westlich von Augsburg. Jene Gegenden also, in denen es Ende April 1986 starke Regenfälle und Gewitter gab. Noch heute raten Behörden hier zum sparsamen Verzehr von Waldfrüchten und Wild, denn Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren ist nach wie vor in Böden präsent.

    Gundremmingen misst am 30. April das Dreifache des mittleren natürlichen Strahlungspegels, die Schwaben stehen ahnungslos radioaktiv durchnässt um ihr Maifeuer und freuen sich auf „eine milde Ostströmung unter zunehmendem Hochdruckeinfluss“. Die wird, wie man hört, „in den nächsten Tagen weitere radioaktive Luft nach Süddeutschland treiben“. Von Risiken ist damals noch keine Rede.

    Eine Familientherapeutin aus dem Raum Obergünzburg und Mutter dreier damals kleiner Kinder erinnert sich: „Nach dem verregneten Aprilende lockte die Sonne die Kinder ins Freie. Ich weiß noch, wie sie im gerade wachsenden Gras und im Sandkasten spielten – zwei Tage später hab ich erfahren, dass ausgerechnet Sandkästen besonders verstrahlt seien. Unseren Sand ließ ich untersuchen; seine radioaktive Belastung war 25-mal höher als der Normalwert. Wir haben ihn ausgetauscht und das Beste gehofft.“

    Ab Ende April beherrscht das Thema Tschernobyl die vorderen Seiten der Zeitungen. Auf Fußballplätzen und in Bäckereien sprechen die Menschen statt über Abseitsfallen und Semmeln von Rem und Becquerel, Sievert und Halbwertszeiten. Ab Anfang Mai darf Frischmilch ab einem bestimmten Grad an radioaktiver Verstrahlung nicht mehr verkauft werden. Die Allgäuer Bauern werden vom Tiergesundheitsdienst aufgefordert, Kühe nicht auf die Weide zu treiben und ihnen kein frisch gemähtes Gras zu füttern. Nicht alle Bauern halten sich daran, weil Silofutter mancherorts aufgebraucht ist.

    Es gibt im Allgäu niemanden, der Radioaktivität in der Milch messen kann. Die zuständige Milchwirtschaftliche Untersuchungs- und Versuchsanstalt in Kempten teilt mit: „Wir können nur feststellen, wenn es den Bauern reinregnet in die Milch, aber nicht, wenn es reinstrahlt.“ Proben werden deshalb ins Kernkraftwerk Gundremmingen geschickt, sie enthalten neben „völlig ungefährlichen Werten“ zum Teil mehr als das Dreifache des angeblich unbedenklichen Becquerelwertes. Die Leute reagieren verschreckt oder vorsichtig, die Molkerei Müller erklärt Milch für „unbedenklich“, aber der Verkauf bricht ein. Im Allgäu und bei der Augsburger Cema zum Beispiel geht der Umsatz um die Hälfte zurück. Ebenso der Absatz von Blattgemüse beim Gemüsegroßhändler Alfred Stölzel in Augsburg, der von „gewaltigen Einbußen“ spricht.

    Dafür sind Eier aus Legebatterien, Hühner aus Massenhaltung und Gemüse aus dem Treibhaus gefragt, am liebsten in Dosen. Alles, was draußen rumläuft und unter freiem Himmel wächst, meiden die Kunden. So trifft die atomare Katastrophe ausgerechnet die ersten Biobauern südlich der Donau am härtesten – und sie motiviert zu einer großen Demonstration in Augsburg am 10. Mai unter dem Motto „Tschernobyl ist überall – Ausstieg aus der Atomtechnologie“.

    Der damalige bayerische Umweltminister Alfred Dick (CSU) beruhigt eine schwäbische Vegetarierin bei einer Telefonaktion mit dem neckischen Hinweis: „Sie fressen doch kein Gras.“ Später wird Dick persönlich löffelweise Molkepulver essen, um zu demonstrieren, wie ungefährlich das Pulver ist. Und Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle aus Kempten macht für seine etwa 13000 Allgäuer Milchbauern rund zehn Millionen Mark locker, die der Staat noch im Juni als Entschädigung für entgangene Einnahmen ausbezahlt.

    Während die Behörden zunehmend Entwarnung geben – Bayern erlaubt beispielsweise Mitte Mai den Bauern die Grünfütterung wieder –, wächst die Besorgnis in der Bevölkerung. Ärzte in Schwaben warnen mit einer Kampagne vor Spätschäden durch radioaktive Strahlen, gegen die sie „machtlos“ seien. Ortsverbände von SPD und Grünen plädieren für den Atomausstieg, während die Union unbeirrt auf Kernkraft setzt. (mit dapd)

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