Hätte der schwerkranke Mann sterben wollen - oder wollte er trotz seiner vielfachen Leiden leben? Die Frage von lebensverlängernden Maßnahmen für einen Schwerkranken beschäftigt einmal mehr ein Gericht. Der Patient wird aber nicht mehr erlöst, er ist schon seit Jahren tot. Das Landgericht München I befasste sich am Montag mit der Schadenersatzforderung seines Sohnes in Höhe von rund 150 000 Euro. Er macht Schmerzensgeld und Behandlungskosten geltend.
Meist geht es in Arzthaftungsprozessen um eine falsche Diagnose oder um eine versäumte Behandlung. Hier hingegen gehe es um ein "Zuviel", sagt der Vorsitzende Richter. Eine Entscheidung will das Gericht Mitte Januar verkünden.
Der Patient war jahrelang über eine Magensonde ernährt worden. Spätestens ein Jahr vor seinem Tod sei das nicht mehr fachärztlich angemessen gewesen, argumentiert sein Sohn, Heinrich Sening. Der Kranken- und Altenpfleger lebt in den USA, sein Vater hatte einen Betreuer. "Es geht nicht ums Geld. Es ist hier nicht mit rechten Dingen zugegangen. Der Vater war 14 Jahre betreut und die Familie wurde kein einziges Mal gefragt", sagt Sening.
Der beklagte Arzt sagt, er habe sich an den Betreuer gewandt. "Einen Patienten zu Tode zur bringen, indem ich ihm die Ernährung entziehe - das ist sehr schlecht vorstellbar."
Eine ganze Liste von Leiden
Es muss dem alten Mann wirklich sehr schlecht gegangen sein. Anwalt Wolfgang Putz verlas eine ganze Liste von Leiden. Er habe nicht mehr sprechen und nicht mehr stehen können, nicht mehr selbst essen und trinken oder Kontakt mit seiner Umwelt aufnehmen. Er habe unter Inkontinenz gelitten, unter Atemnot und Druckgeschwüren. Gekrümmt in Krämpfen und am Bett fixiert habe er gelegentlich schon gejammert, wenn er angesprochen worden sei. "Das alles zusammengesehen: Sehen Sie da immer noch die Indikation für die Lebensverlängerung, die diese Leiden überhaupt erst ermöglicht hat durch die Magensonde?"
Die Sonde war 2006 gelegt worden. Der Hamburger Gutachter Hans-Otto Wagner erläuterte, bei der Demenz habe es keine Aussicht auf Besserung gegeben. "Ich verstehe sehr gut, dass das ein bedauernswerter Mensch war in diesem Zustand", sagte der Mediziner. "Trotzdem würde man in so einem Zustand nicht sagen: Das ist überhaupt nicht lebenswert." Auch 2010 habe sich der Mann nicht im Sterbeprozess befunden. "Ich würde mir aber nicht zutrauen, das Leiden so zu bewerten, dass ich sagen würde: Dieses Leiden ist so allumfassend, dass ich die Ernährung einstelle."
Richter Zeller sieht ein Versäumnis: Der Arzt hätte mit dem Betreuer sprechen und dieser hätte mit dem Sohn Kontakt aufnehmen müssen. "Im Idealfall hätte man sich zu dritt getroffen." Und das Schicksal des Vaters besprochen. Kaum beweisbar dürfte sein, dass dabei die Entscheidung gefallen wäre, die Ernährung einzustellen. Sening will, wenn er verliert, voraussichtlich in die nächste Instanz gehen.
Auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, warnte, Demenzkranke seien nicht per se Sterbende. Das müsse das Gericht in den Blick nehmen. "Deshalb Vorsicht vor allgemein gültigen Kategorien für das Sterben. Der juristische Versuch würde scheitern. Davon wären Hunderttausende Menschen betroffen, die ihren Willen nicht äußern können."
Im Gericht verfolgen einige Menschen aus dem Pflegebereich den Prozess. Er lerne hier viel, sagt ein Hospizhelfer - "auch für meine eigene Patientenverfügung". Von Sabine Dobel, dpa