Hagnau am Bodensee Wenn Maria Sonntag auf das eisige Wasser blickt, freut sich die 77-Jährige. Denn der Dauerfrost erinnert sie an den Winter 1963. Damals war der Bodensee das letzte Mal komplett zugefroren – „Seegfrörne“ nennen die Einheimischen dieses Naturereignis.
Davon ist der See trotz andauernder Minustemperaturen weit entfernt, sagt Volker Wünsche, Meteorologe des Deutschen Wetterdienstes in München. An der Wetterstation in Konstanz ist man sich sicher, dass der Obersee, der deutlich größere Teil des Sees, diesen Winter keine geschlossene Eisfläche bilden wird. Dafür sei die Kälte zu spät gekommen. Beim kleineren Stück im Südwesten des Bodensees, dem Untersee, ist das allerdings noch möglich.
„Dort kann man an den Rändern bereits Schlittschuh fahren“, sagt der Wetterexperte. Und die Prognosen sind günstig. Meteorologe Wünsche hält es für immer wahrscheinlicher, dass wir noch über einen längeren Zeitraum mit dem Dauerfrost zurechtkommen müssen. Dann könnte Eis den Untersee komplett zudecken.
Bereits ab November 1962 hatte es konstant mindestens minus fünf bis minus 15 Grad, erzählt Maria Sonntag. „Schon im Januar sagten die Alten, dass es eine Seegfrörne geben wird.“ Und so war es dann auch. Am 6. Februar brachen zwei Gruppen junger Männer aus Hagnau (Bodenseekreis) auf – ausgestattet mit Leitern, Schlitten und Booten – zum anderen Ufer. 30 Minuten später stiegen sie in Allnau in der Schweiz an Land, wo sie herzlich willkommen geheißen wurden. Nicht selbstverständlich in der damaligen Zeit, erinnert sich die 77-Jährige. „Nach dem Krieg waren die Schweizer nicht gut auf uns Deutsche zu sprechen.“
Dass die Seegfrörne für die Identität der Bodenseebewohner eine wichtige Rolle spielt, sagt auch Bernhard Tschofen, Professor für empirische Kulturwissenschaft und Volkskunde an der Universität Tübingen. Er untersucht den See als grenzüberschreitenden Gedächtnisort. „Es ist eine gemeinsame Verbundenheit mit und durch den See.“ In jeder Familie gibt es Erinnerungen an dieses Naturschauspiel. Tschofen ist selbst in Bregenz geboren, allerdings erst 1966. „Jeder hatte einen Vater oder Onkel, der irgendwie über den See gefahren ist.“
Mit dem Fahrrad kam Maria Sonntag ans Schweizer Ufer. „Das war ein ständiges Hin und Her“, sagt Sonntag, die damals 30 Jahre alt war. Anfangs hätten die Behörden noch versucht, das Treiben zu unterbinden – aus Angst vor Schmugglern. Doch die Menschen seien einfach überall auf das Eis gegangen, einen Monat lang. „Man hat sich gegenseitig eingeladen.“
Stände mit gegrilltem Fisch, Glühwein und Tee waren in der Mitte des Sees aufgebaut. Bis nach Ulm habe man nirgends mehr Schlittschuhe bekommen können. „Das war wie ein Volksfest“, sagt die gebürtige Allgäuerin und lacht.
Höhepunkt der Seegfrörne war jedoch die Eisprozession. Schilder mit „Herr, du kannst Brücken bauen“ wurden ebenso über den See geführt wie die Büste des heiligen Johannes. Mit jeder Seegfrörne wandert die Büste von Ufer zu Ufer – das letzte Mal 1963 von Hagnau nach Münsterlingen ins Frauenkloster, wo sie auch heute noch steht. Maria Sonntag erzählt gern von diesem Winter: „Es war einfach eine schöne Zeit.“ Doch als das Eis am 19. März 1963 langsam wieder aufbrach, sei sie nicht wehmütig gewesen. „Dann haben wir uns auf den Frühling gefreut.“