Kurz vor der innerdeutschen Grenze wird Margot Dieckmann zur Puppe. Ein Schleier bedeckt ihr Gesicht, sie hat Theaterschminke aufgelegt und trägt Requisiten – wie die Plastikfiguren um sie herum. Im Anhänger ist es dunkel. „Ich höre die Grenze kommen, Leute schreien.“ Der Wagen hält an.
Die Klappe geht auf, das Licht einer Taschenlampe huscht über sie und die Theaterausstattung. „Anscheinend war ich in dem Moment so still, dass ich wie eine der anderen Puppen ausschaute.“ Sie ist erleichtert, will schon aufatmen. „Plötzlich ruft ein Russe: Ich will die Requisiten auch sehen!“ Eine Diskussion entspinnt sich zwischen den deutschen Grenzbeamten und dem sowjetischen Soldaten. Eine Autoschlange hat sich gebildet. Die Grenzer wollen die Fahrer nicht warten lassen. Der Soldat dagegen hat wohl etwas gesehen. „Der war verärgert.“ Die Beamten setzen sich durch. Es geht hinaus aus der DDR. Hinaus in die Freiheit.
In der Nachkriegszeit fliehen hunderttausende Vertriebene
Margot Dieckmann lebt heute in Königsbrunn bei Augsburg, im sechsten Stock eines großen Wohnhauses. Während die 89-Jährige erzählt, knetet sie die Daumen ihrer gefalteten Hände. „Wenn ich jetzt die Flüchtlinge im Fernsehen sehe, fühle ich mit ihnen“, sagt sie. „Ich erinnere mich an früher.“ Früher, das ist für die gebürtige Berlinerin die Flucht aus der DDR. Früher, das ist die Zeit zweier deutscher Staaten, in denen allein bis 1950 etwa zwölf Millionen Menschen zu den Einheimischen stoßen – acht Millionen in der Bundesrepublik, vier Millionen in der sowjetisch besetzten Zone.
Es ist die Nachkriegszeit, und Deutschland ist in vier Sektoren unterteilt. Die Alliierten – die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion – verwalten sie. Die meisten Einheimischen: bettelarm. Die Städte: ausgebombt. Gleichzeitig strömen aus Ostpreußen, Schlesien oder dem Sudetenland hunderttausende Vertriebene ins Land. Auch aus der sowjetisch besetzten Zone flüchten die ersten. Es herrscht Ausnahmezustand.
Heute sind es wohl eine Million Flüchtlinge allein in diesem Jahr, die nach Deutschland kommen. An den Wochenenden drängen zehntausende Syrer, Afghanen oder Kosovaren nach Bayern. Die Behörden arbeiten am Anschlag. Wieder: ein Land im Ausnahmezustand.
Kann man Flucht und Vertreibung von früher mit der heutigen Situation vergleichen?
Bei all den Erinnerungen: Kann, ja darf man Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Situation heute überhaupt vergleichen? Nein, sagen viele empört, das damals waren deutsche Heimatvertriebene, das heute sind vor allem Muslime aus dem arabischen Sprachraum, und nicht wenige unter ihnen Wirtschaftsflüchtlinge. Und wenn das doch geht? Können wir dann etwas daraus lernen?
Margot Dieckmann wächst in Berlin auf. Ihren Heimatort verlässt sie das erste Mal unfreiwillig 1945. Das Haus, in dem sie und ihre Schwester Elisabeth leben, wird zerbombt. Weil sie sich direkt von ihrer Arbeit als Erzieherin in den Luftschutzkeller rettet, hat sie von einem Tag auf den anderen nur noch das, was sie am Leib trägt. Ein Bekannter nimmt sie zu sich nach Oebisfelde in Sachsen-Anhalt.
Das zweite Mal verlässt Dieckmann ihre Heimat in den 50er Jahren. Sie ist verheiratet, mit Bernhard, einem Zugschaffner, und lebt nun in Magdeburg. Die Polizei erwischt ihn auf dem Heimweg – mit ein paar verbotenen Heften. „Was sonst noch passiert ist, weiß ich nicht“, sagt die alte Dame, deren Mann mittlerweile gestorben ist. Jedenfalls: „Er kommt nach Hause und sagt: Die Polizei ist hinter mir her. Ich muss flüchten, nach Westberlin.“ Margot Dieckmann will nicht ohne ihn bleiben. Die Mauer steht zwar noch nicht, aber die DDR erschwert den Grenzübertritt mehr und mehr. Die Flucht gelingt erst Wochen später – im Auto einer Theatertruppe.
---Trennung _Es tobt eine Neiddebatte_ Trennung---
Margot Dieckmann kommen in diesen Tagen Gedanken an ihre damalige Flucht hoch
Auch heute kommen viele Flüchtlinge in Autos über die Grenzen – mithilfe von Schleusern. Diese verlangen viel Geld. Damals nehmen die Theaterleute Margot Dieckmann kostenlos mit. Sie geben ihr, in Westberlin angekommen, sogar noch etwas zu essen. Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte des Lastwagens in Österreich, in dem kürzlich 71 Flüchtlinge starben, für die Frau umso unfassbarer. Der Fahrer hatte sie eingesperrt und sich selbst aus dem Staub gemacht.
Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen, erinnert dieser Fall an seinen Großvater. Der wurde 1945 in die Sowjetunion verschleppt. „Am meisten hat er hinterher von der Fahrt in einem vernagelten Viehwaggon bei 30 Grad Kälte erzählt, aus dem unterwegs tote Menschen geworfen wurden.“
Auch Dieckmann muss in diesen Tagen ständig an ihre Geschichte denken. Sie sieht im Fernsehen, wie Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof ankommen, liest in der Zeitung von Grenzübertritten – und ist in Gedanken sofort bei ihrer eigenen Flucht. Vielen Mitgliedern des Vertriebenenbundes gehe es ähnlich, sagt Fabritius. „Deshalb gibt es bei uns eine große Empathie gegenüber den Flüchtlingen, ja ein Mitleiden.“
Sind die Flüchtlinge von damals nun vergleichbar mit den heutigen? Hinsichtlich des persönlichen Trauma-Empfindens ja, findet Fabritius. Allerdings: „Es gibt Unterschiede, deren Nennung aber keine Wertung enthält. Die Heimatvertriebenen hatten ja zum Teil die gleiche Staatsangehörigkeit und sind von Landsleuten, von Brüdern und Schwestern aufgenommen worden. Heute kommen Fremde mit anderer Sprache und einem anderen Werteempfinden. Das bringt mit sich, dass es für viele viel schwerer ist, sich einzufinden.“ Fabritius wehrt sich aber gegen einen Vergleich mit Wirtschaftsflüchtlingen, die „nicht aus Todesangst ihre Heimat verlassen mussten und müssen“.
Flüchtlinge werden privilegiert wahrgenommen - es entsteht Neiddebatte
Michael Schwartz vom renommierten Institut für Zeitgeschichte in Berlin wirft noch einen anderen Gedanken auf. „Nach Deutschland kommen heute auch Bürgerkriegsflüchtlinge in großer Zahl, die nicht mehr unmittelbar an Leib und Leben bedroht sind“, sagt er. Sie haben einige Zeit in Lagern im Libanon oder in der Türkei gelebt und strebten nach besseren Verhältnissen. Für alle Flüchtlingsströme gelte: Nicht vergleichen könne man natürlich die Ursachen der Migration, so der Professor. So wurden einst aus ehemals deutschen Gebieten Einheimische von ausländischen Regierungen aus ihren Häusern vertrieben. Andere flüchteten als politisch Verfolgte, etwa aus der DDR.
Und doch gebe es bei allen Migranten auch Vergleichbarkeiten, sagt Schwartz. Da sei die Fremdheitserfahrung zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen, die oft in Anerkennungs- und Integrationsschwierigkeiten mündet. Andere Sitten und Gebräuche, ja die Gerüche fremder Speisen könnten stören. Konfessionen, Werte, Kulturen prallten aufeinander. Es entstehe eine Neiddebatte, sagt der Historiker. Die Flüchtlinge werden als privilegiert wahrgenommen. Man konkurriert um Jobs und Wohnraum.
Auch die Dieckmanns werden nach ihrer Flucht als Fremde betrachtet. Die Familie wird von Berlin nach Baden-Württemberg ausgeflogen und strandet in einem Aufnahmelager. „Da war alles voller Betten, drei und vier Stock hoch“, erzählt Margot Dieckmann. Die Betten sind mit Dreck beschmiert. Sie fragt nach frischem Stroh und bekommt die Antwort: „Sie sind ein Flüchtling wie jeder andere auch. Sie wollen noch Ansprüche stellen? Warum sind Sie nicht dageblieben?“ Sie sagt, sie sei oft gefragt worden: Warum seid ihr geflüchtet? „Aber warum sollten wir denn alles noch und noch mal erzählen?“ Sie ziehen oft um, werden zwangseingemietet bei fremden Leuten. In manchen Wohnungen dürfen sie weder Küche noch Bad benutzen.
Von „regelrechten Kämpfen“ um Küche und Bad spricht auch Historiker Schwartz. Doch diese anfängliche Fremdheit zwischen Neuankömmlingen und Einheimischen wurde mit der Zeit abgeschliffen, sagt er. Die jüngere Generation traf sich am Arbeits- und auf dem Sportplatz. Die ersten Paare heirateten. Doch bevor es so weit kommen sollte, musste das geteilte Deutschland das Jahr 1945 überwinden. Eine „chaotische Phase“, sagt Schwartz. Keiner konnte die Zahl der Flüchtlinge ermessen, keiner wusste genau, wer wohin sollte. Deutschland erlebe auch jetzt eine chaotische Phase, wenn „auch nicht ganz so schlimm wie 1945“.
Unterschied zu heute: Bundesrepublik konnte Entscheidungen nicht eigenständig treffen
Ab 1946 begannen die Alliierten gemeinsam mit den deutschen Behörden, die Flüchtlingssituation zu regeln, erklärt Schwartz. Sie entwickelten geordnete Verfahren. Seuchen versuchte man durch medizinische Kontrollen zu unterbinden. Dann natürlich: das große Problem Kost und Unterbringung. Viele Städte waren zerbombt, das Essen war knapp, die Winter waren kalt. Flüchtlinge wurden in Privatwohnungen gesteckt, ein Protest der darin lebenden Mieter war zwecklos. Das schaffte „viel böses Blut“, sagt Schwartz. Teils gab es Sammellager in ehemaligen Wehrmachtskasernen oder Zwangsarbeiterunterkünften. Ehemalige Kasernen oder andere leer stehende Gebäude sind auch heute bevorzugte Erstaufnahme-Einrichtungen. Zwangsuntermiete allerdings und das damit verbundene Eindringen in die Privatsphäre gibt es nicht mehr.
Der ganz große Unterschied zu heute ist für Schwartz: Nach 1945 traf die Bundesrepublik alle Entscheidungen nicht eigenständig, sondern unter Kontrolle der Alliierten. „Wenn damals Deutschland selbst hätte bestimmen dürfen, weiß ich nicht, ob es auch zwölf Millionen Flüchtlinge aufgenommen hätte.“ Aus den Vergleichen mit früher, glaubt der Historiker, kann ein „wechselseitiger Lernprozess“ entstehen – und Empathie für Flüchtlinge damals wie heute.
Und die Dieckmanns? Bernhard fand schließlich Arbeit bei der Bundeswehr. Die Familie zog nach Königsbrunn. Margot Dieckmann kümmerte sich um die zwei Kinder. Beide reisten viel, bis nach Afrika – ein Kontinent, von dem heute viele Flüchtlinge kommen. (mit dpa)