Wenn Monika Stempfle wiederkäme, müssten in ihrem Zimmer nur ein paar Kartons mit dort abgestellten Sachen weggeräumt werden. Ihr Bett unter der Dachschräge in ihrem Elternhaus in Oberndorf (Landkreis Donau-Ries) ist gemacht, die Kissen sind rot-weiß kariert bezogen. Selbst die Tapete ist noch dieselbe wie 1966, mit einem Muster aus weiß-orangen Blüten auf braunem Grund. Alles wie damals. Dass Monika wiederkommt, ist jedoch unwahrscheinlich. Am Mittwoch ist es 50 Jahre her, dass die 17-Jährige auf dem Heimweg vom Gymnasium, das sie in Augsburg besuchte, am Bahnhof in Mertingen spurlos verschwand.
Es ist der 27. Januar 1966, ein regnerischer, neblig-trüber Donnerstag. Eine Mitschülerin, die weiter nach Donauwörth fährt, sieht sie um 13.52 Uhr noch aussteigen. Monika Stempfles Stiefvater sollte das Mädchen wie so oft mit dem Auto am Bahnhof abholen. Doch er verspätet sich um eine Viertelstunde. Als er kommt, ist das Mädchen weg.
Großeinsatz der Polizei, Suchtrupps mit Spürhunden und Hubschrauber in den Lechauen rund um Oberndorf, bundesweite Fahndung, jahrelange Ermittlungen, vier Aktenordner bei der Kriminalpolizei Dillingen – alles ohne Ergebnis. Bis heute gibt es keine Spur. Doch Monika ist nicht vergessen – nicht von der Polizei, nicht von den älteren Einheimischen im Dorf und schon gar nicht von der Familie.
Monika Stempfle wird seit 50 Jahren vermisst
In die Gesichtszüge der 95 Jahre alten Mutter Fanny Glückstein hat sich der Schmerz eingegraben. Kerzengerade, die Arme auf der Tischplatte aufgestützt, sitzt sie auf der Eckbank und erzählt. Von ihrer Kindheit im Bayerischen Wald, von der Kriegszeit, die sie als Angestellte in einem Laden in Augsburg-Pfersee erlebt, ein wenig auch von den ersten Ehejahren an der Seite des Maurermeisters Mathias Stempfle. Er stirbt 1958 an einem Herzinfarkt. Die Witwe mit zwei Kindern, einer Tochter und einem Sohn, muss das Baugeschäft alleine weiterführen.
Über ihre Älteste sagt sie lange nichts. Erst als sie direkt auf sie angesprochen wird: „Sie war so brav. Und dann ist sie eines Tages nicht mehr gekommen.“ Es klingt, als habe sie mit dem Thema abgeschlossen. Und fügt nach einer kleinen Pause hinzu: „Wir haben alles versucht, alles umsonst.“ Die Frage, ob sie glaubt, dass Monika ermordet wurde, bleibt im Halse stecken.
Es gab eine Zeit, in der Fanny Glückstein mit Journalisten nicht mehr sprechen wollte. Viele Jahre wird über Monika berichtet, über Hinweise, über Spekulationen, über ergebnislose Versuche, sie zu finden. Das Schicksal der bildhübschen blonden 17-Jährigen mit den blauen Augen und auffallend dunklen Brauen ist auch in den bunten Blättern ein beliebtes Thema. Es seien „viele Unwahrheiten“ geschrieben worden, sagt Monika Stempfles jüngere Halbschwester Isolde Schuhladen, 54. Sie ist die Tochter aus der zweiten Ehe ihrer Mutter mit dem Bundesbahn-Zugführer Urban Glückstein. Bei ihr wohnt die alte Frau seit einigen Jahren.
Die Glücksteins suchen in ihrer Not Hellseher auf. Alle behaupten: „Monika lebt“. Eine dieser Prophetinnen „sieht “ sie in München, ein Seher in Holland fertigt eine Zeichnung von einer Toreinfahrt in Nürnberg an. In einem hohen Haus mit wenig Fenstern in der Nähe dieser Toreinfahrt werde man einen Hinweis auf Monika finden, sagt er. Die Mutter und der Stiefvater suchen Nürnberg ab, Sonntag für Sonntag. Nichts. Ein befreundeter pensionierter Polizeibeamter hilft lange mit privaten Ermittlungen. Vergeblich. „Das überleb’ ich nicht“, habe sie immer wieder gedacht, sagt die alte Frau.
Die Erinnerung im Dorf ist auch wegen "Aktenzeichen XY" noch immer da
Ein Jahr nach Monikas Verschwinden stirbt auch noch ihr zweiter Mann Urban an einem Gehirnschlag. „An Kummer“, sagten die Leute. „Er hat sich so aufgeregt“, sagt seine Tochter Isolde. Vielleicht auch wegen der verhängnisvollen Viertelstunde, die er zu spät dran war, weil er auf einer Baustelle aufgehalten wurde. „So ist das Leben“, sagt Fanny Glückstein. „Manchmal wär’s besser, man käme gar nicht auf diese Welt.“
Isolde ist vier, als ihre große Schwester verschwindet. Die Atmosphäre, in der sie aufgewachsen ist, muss belastend gewesen sein. Noch heute werde ihre Mutter unruhig, wenn Isolde länger als zwei Stunden weg ist, erzählt Schwiegersohn Hans. „Ein Trauma“, meint er. Ein Vergessen ist nicht möglich.
Auch im Dorf ist die Erinnerung bei den Älteren wach. Erst vergangenen Mittwoch, als „Aktenzeichen XY...ungelöst“ von einer Vermisstensache aus dem Jahr 1985 berichtet, muss Annemarie Beer „intensiv“ daran denken. Auch weil sie selbst nicht lange nach dem Verschwinden der ein Jahr älteren Monika ein beunruhigendes Erlebnis hat. Die heute 65-jährige Schulkameradin aus der Volksschulzeit ist damals auf der Straße nach Genderkingen zu Fuß zu ihrer Lehrstelle unterwegs, als ein Auto mit Weißenburger Nummer anhält. Der Beifahrer steigt aus und fragt, wo es nach Rain am Lech geht – „wozu muss man aussteigen, wenn man nach dem Weg fragt?“, fügt die Frau bedeutsam hinzu. Als ein anderes Auto aus Genderkingen herausfährt, steigt der Mann schnell ein und der Wagen braust davon.
Sie meldet den Vorfall der Polizei, kann aber in ihrer damaligen Aufregung keine näheren Angaben machen. Der „Fall Monika Stempfle“ macht jungen Mädchen in der Gegend um Donauwörth Angst. Wer alleine zu Fuß gehen muss, fühlt sich bedroht. Denn auch Monika macht sich an jenem trüben Januartag wohl zu Fuß auf den Weg nach Hause. Dass jemand sie in ein Auto gezerrt und entführt haben könnte, ist eine der möglichen Erklärungen für ihr spurloses Verschwinden.
Polizei befragt Hunderte Zeugen wegen Monika Stempfle
Knapp vier Kilometer sind es vom Bahnhof Mertingen bis zum Haus der Familie in Oberndorf. Die alte Staatsstraße führt damals noch mitten durch Mertingen, dann am Bahnhof an einem beschrankten Übergang über die Bahngleise – dort wo heute die Fußgängerunterführung ist – und ein paar hundert Meter weiter über die Bundesstraße 2. Es ist keine ungewöhnlich lange Strecke, um zu Fuß zu gehen in dieser Zeit.
Der heute 75-jährige Landwirt Alfred Roßmann sieht damals das blonde Mädchen ab und zu vorbeigehen, wenn er auf dem Hof Holz macht. „Heute muss sie wieder laufen“, denkt er sich dann jedes Mal. Er kennt sie nicht näher, weiß aber, dass sie die Tochter des verstorbenen Bauunternehmers Stempfle ist. „Sie war nicht groß“, sagt Roßmann und deutet mit der Hand bis zu seinem Kinn.
An jenem 27. Januar 1966 sieht er sie nicht, sagt Roßmann. Die Polizei befragt viele hundert mögliche Zeugen, darunter auch ihn als unmittelbaren Nachbarn des Bahnhofs. Ein anderer Zeuge will das Mädchen noch an der Bundesstraße bemerkt haben. Keiner der vielen Hinweise hilft wirklich weiter. Zwei junge Burschen wollen Monika in München kennengelernt haben. Sie soll erzählt haben, dass sie mit einer Musikkapelle mitgefahren sei, und – ein Detail , das stimmt – dass sie Interesse am Apotheker- oder Drogistenfach habe. Gerüchte kommen auf. Leute, die Monika Stempfle nicht kennen, spekulieren, dass die 17-Jährige aus Abenteuerlust verschwunden sein könnte. Auch nach einem Tanzpartner, mit dem sie bei einer Hochzeit gesehen worden sein soll, wird eine Weile gefahndet. Annemarie Beer wundert sich, dass sich Monika Stempfle überhaupt fürs Tanzen interessiert haben soll. „Sie war ein ruhiges Mädle. Und gescheit“, erinnert sie sich.
Aus der Volksschule kennt sie die ein Jahr ältere Monika eher flüchtig, und als diese nach der vierten Klasse in die Maria-Theresia-Oberrealschule nach Augsburg wechselt, verlieren sich die Mädchen aus den Augen. Schulkamerad Peter Streitberger, Jahrgang 1949 wie Monika Stempfle, trifft sie auch später noch gelegentlich bei der Landjugend, zuletzt am Abend vor ihrem Verschwinden. Beim Landjugendball ist sie dabei. „Wir haben sie danach zu Hause abgeliefert“, erzählt er.
Tags darauf und in der Zeit danach gehört er zu denen, die sich an der fieberhaften Suche in den Lechauen beteiligen. Weil kein Schnee liegt und damit auch keine verdächtigen Spuren gezielt verfolgt werden können, wird das ganze Gelände sorgfältig durchkämmt. Monika hätte ja verletzt in einem Graben liegen können. Sie finden nichts.
Die Polizei geht schnell von einem Verbrechen aus
1968 wird der Auwaldsee in Ingolstadt von Tauchern abgesucht. Ein als „Äthermörder“ apostrophierter Mann hat bei der Polizei ein makabres Hirngespinst zu Protokoll gegeben: Monika habe sich nach dem mit ihm gemeinsam getroffenen Entschluss, sich das Leben zu nehmen, an einem Baum erhängt und er habe sie in dem See versenkt.
Es ist eine der vielen schrecklichen Geschichten, die in Zeitungsausschnitten dokumentiert sind. Der frühere Polizeibeamte Gustav Hornung, auch er ein Schulkamerad, hat sie gesammelt und bei einem Klassentreffen 2005 im Gasthaus Krone in Oberndorf an eine Pinnwand geheftet.
Erika Poetzsch aus Mertingen arbeitet damals als Bedienung in dem Gasthaus. Sie ist eine Außenstehende, die Monika Stempfle und ihre Familie nicht persönlich kennt. Aber sie bekommt die Betroffenheit mit, die bei dem Klassentreffen herrscht und ist berührt. Mitleid hat sie vor allem mit der Mutter: „Die Ungewissheit ist schlimmer, als wenn man weiß, sie ist tot, man hat sie beerdigt und man kann trauern.“
Von einem Verbrechen geht die Polizei schon bald aus. Auch wenn keine Leiche gefunden wird. Keiner der Totenschädel, die im Lauf der Zeit in der Umgebung zutage kommen, ist Monika Stempfle zuzuordnen. Generationen von Kripo-Beamten haben seit 1966 immer wieder nachgehakt. Zuletzt vor etwa zwei Jahren aufgrund eines konkreten Verdachts gegen einen wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilten Mann. Ein Auto desselben Typs, das er im Zusammenhang mit dem Mord gefahren hatte, ist am Bahnhof in Mertingen gesehen worden. Doch dem Mann, der nach Verbüßen seiner Haftstrafe wieder auf freiem Fuß ist, kann bislang nichts nachgewiesen werden.
Die Polizei bleibt dran. Die Akte ist immer noch offen. Artur Bihler, der jetzt bei der Kriminalpolizei Dillingen für die Ermittlungen zuständig ist, erklärt warum: „Mord verjährt nicht“, sagt Bihler – wie der Schmerz der Mutter.