Dort, wo bis vor sechs Wochen das Grab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß lag, sprießt jetzt frisches grünes Gras. Sie müssen schnell wachsende Grassaat verwendet haben. Die Stelle hätte man gar nicht gefunden, wenn nicht eine freundliche alte Dame mit Rollator einem den Weg gewiesen hätte mit den Worten: „Ich weiß nicht, warum man die Grabstätte auflösen musste, sie hat doch keinen gestört.“ Und jetzt steht man da und muss unwillkürlich denken: Jetzt wächst also Gras über die Sache.
Aber ist das so? Oder hat die alte Dame vielleicht recht und wurde mit der Auflösung des Heß-Grabs mehr Wirbel ausgelöst, als das hilfreich wäre für Wunsiedel? Das Städtchen im Fichtelgebirge, das seit vielen Jahren vor allem bekannt war für das Heß-Grab, obwohl es auch Geburtsort des großen deutschen Schriftstellers Jean Paul und Schauplatz der berühmten Luisenburg-Festspiele ist.
Die meisten Menschen, die man in Wunsiedel anspricht, finden es richtig, dass das Grab der Familie Heß – übrigens einst eine hoch angesehene Familie im Ort – aufgelöst worden ist. Sie erhoffen sich davon, dass den Rechtsextremisten und Ewiggestrigen eine Pilgerstätte entzogen worden ist. Sie befinden sich in guter Gesellschaft mit dem Präsidenten des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, Burkhard Körner: Er meint, dass der Zulauf zu den Neonazi-Gedenkmärschen immer weiter zurückgehen werde.
In der Gemeinde hofft man, den braunen Spuk beendet zu haben
Viele Jahre lang war der Ort in Verbindung mit braunen Aufmärschen bekannt. Im Jahr 2004 kamen noch 4500 Rechtsextremisten aus ganz Europa aus Anlass des Heß-Todestags am 17. August. Viele Jahre hatte der damalige Landrat Peter Seißer vergeblich versucht, die Demonstrationen verbieten zu lassen. Bis es dann 2005 gelungen ist, das Versammlungsrecht zu ändern. Fortan konnten die Demos verboten werden mit der Begründung, sie störten den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch, dass die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft gebilligt, verherrlicht oder gerechtfertigt wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zehn Mal mit den Aufmärschen beschäftigt, bis es 2009 die entsprechende Strafrechtsnovelle in der fortan so genannten „Wunsiedel-Entscheidung“ endgültig für verfassungsgemäß erklärte.
Mit der überraschenden Auflösung des Heß-Grabes glaubt die Kommune nun, den braunen Spuk beendet zu haben. Es wurde ja nicht einfach nur ein Grabstein entfernt. In den Morgenstunden des 20. Juli waren die Gebeine des Nationalsozialisten und fanatischen Hitler-Anhängers Rudolf Heß exhumiert und verbrannt worden. Der Vorstand der evangelischen Kirchengemeinde hatte dies möglich gemacht, indem er einer Verlängerung des Pachtvertrags für das Grab nicht zugestimmt hatte. Ex-Landrat Seißer war als Kirchenvorstand auch daran maßgeblich beteiligt. Die Familie wollte Heß’ sterbliche Überreste ins Meer streuen. Was mit den Überresten der Heß-Eltern und der Ehefrau passierte, wurde geheim gehalten.
Über Jahre bestand die ernste Gefahr, dass die 9500-Einwohner-Stadt Wunsiedel sich zu einer Neonazi-Hochburg entwickelt. Ein „Rudolf-Heß-Zentrum“ sollte es angeblich werden. Auch diese Gefahr wurde abgewendet. 2006 gab es immer wieder Gerüchte, die NPD wolle ein Gebäude in Wunsiedel kaufen. Die Kneipe „Lokalbahn“ am Bahnhof war im Gespräch, die sich zwischenzeitlich zu einem Treffpunkt und Veranstaltungsort der Neonazis entwickelt hatte. Heute beherbergt der hässliche Flachbau das „Café Game“, wo es einen „Goasmaß-Tower“ für 15 Euro zu erwerben gibt. An einem verwitterten Fenster des aufgelassenen Bahnhofs hängt noch ein Aufkleber der „Autonomen Antifa Neukölln“ – Überbleibsel aus einer Zeit, als Gegner der Rechtsextremisten aus ganz Deutschland zu Gegendemonstrationen angereist waren.
„Wir wissen heute, dass das damals sehr gefährlich war“, sagt Bürgermeister Karl Willi Beck. Die Neonazi-Größe Jürgen Rieger, der Hauptorganisator des Heß-Gedenkmarsches war, wollte ein leeerstehendes Möbelhaus oder die Gaststätte „Waldlust“ an der Zufahrt zur Luisenburg kaufen, um dort ein Zentrum der Rechtsextremisten zu schaffen. Die finanzielle Potenz hätte er gehabt – Rieger hatte von Gesinnungsgenossen ein beträchtliches Vermögen geerbt. Doch die Stadt und ihre Bürger haben aufgepasst. Das frühere Möbelhaus ist heute ein Autohaus, das Gebäude der „Waldlust“ hat die Stadt selbst gekauft.
Ist Wunsiedel nun also das Gespenst Rudolf Heß los? Den Mann, der nur wenige Stunden hier verbracht hat und sonst nur durch seine Familie mit der Stadt verbunden ist? Den Mann, der 1941 von Augsburg-Haunstetten aus nach England geflogen war – angeblich um Friedensverhandlungen zu führen. Eine Woche nach der Auflösung des Grabes marschierten 250 Neonazis durch Wunsiedel. Vier Tage vor dem Heß-Todestag wollte der Rechtsextremist Christian Bärthel aus Thüringen einen „Gedenkgottesdienst“ für Heß abhalten. Die Stadt lehnte das ab. 20 Rechtsextremisten, die dennoch kamen, wurden von der Polizei nach Hause geschickt.
Wunsiedel vermarktet sich als Wanderparadies
„Wir bleiben wachsam“, sagt der evangelische Pfarrer Jürgen Schödel, einer der Gründer der Initiative „Wunsiedel ist bunt, nicht braun“. Die Vereinigung ist ausgezeichnet vom Bündnis für Demokratie und Toleranz für ihr ideenreiches und wirkungsvolles Engagement. Schödel hat wie Ex-Landrat Seißer und Dekan Jürgen Buchta Drohbriefe erhalten, nachdem das Heß-Grab aufgelöst war. Ihm ist dennoch viel an der Feststellung gelegen, dass Wunsiedel kein braunes Nest ist: „Die NPD hat hier nie signifikante Wahlergebnisse erzielt.“
Und so versucht die Stadt, sich nun endgültig aus dem braunen Schatten zu lösen. „Unser Motto heißt ,Hinschauen statt wegschauen‘“, sagt Bürgermeister Beck. Wunsiedel vermarktet sich als Wanderparadies, als Schauplatz der Luisenburg-Festspiele, als Ort des Bürgerengagements, der Freizügigkeit und der Vielfalt – ganz nach dem Aphorismus ihres größten Sohnes Jean Paul: „Freiheit ist ein Gut, dessen Dasein weniger Vergnügen bringt, als seine Abwesenheit Schmerzen.“