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Polizistenmord: Prozess geplatzt: Wie konnte es soweit kommen?

Polizistenmord

Prozess geplatzt: Wie konnte es soweit kommen?

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    Gedenken an den im Siebentischwald ermordeten Polizisten Mathias Vieth. Archivbild
    Gedenken an den im Siebentischwald ermordeten Polizisten Mathias Vieth. Archivbild Foto: Silvio Wyszengrad

    Der Prozess gegen den mutmaßlichen Polizistenmörder Raimund M. ist geplatzt. Ob es ein neues Verfahren geben wird und wann dies starten könnte, steht derzeit in den Sternen. Nicht nur unsere Leser sind verstört von dieser Entwicklung und diskutieren das Thema heiß auf unseren Internet-Seiten. Der Fall hat höchste politische Kreise in Bayern erreicht. Die Staatsregierung lässt sich regelmäßig informieren. Wie konnte es so weit kommen? Antworten des Bayerischen Justizministeriums und des Landgerichts Augsburg.

    Bei den Untersuchungen durch Gutachter Ralph-Michael Schulte in der Arrestzelle des Augsburger Strafjustizzentrums machte M. einen teils desolaten Eindruck. Er lag teils zitternd und weinend am Boden. Nach Recherchen unserer Zeitung wirkt er in der Justizvollzugsanstalt

    Justizministerium: Einen desolaten Eindruck, wie in der Frage beschrieben, hat der Untersuchungsgefangene bei den ihn betreuenden Bediensteten bisher nicht gemacht, vielmehr wirkt er in seinem Auftreten immer sehr kontrolliert, teils distanziert und der Situation angemessen. Es ist vielmehr zutreffend, dass der Gefangene im Gespräch mit Bediensteten der Justizvollzugsanstalt (allgemeiner Vollzugsdienst, Pflegedienst, Arzt, Abteilungsleiterin) Bedürfnisse und Ansichten verständlich artikuliert hat. Der Gefangene führt Gespräche sowohl mit Bediensteten als auch anderen Gefangenen.

    Landgericht Augsburg: Das Schwurgericht hat am 13.11.2013 die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten geprüft, darüber entschieden und diese Entscheidung in öffentlicher Verhandlung begründet. Entscheidungsgegenstand war dabei die Frage, ob der Angeklagte aktuell in der Lage ist, einem komplexen Verfahren zu folgen und seine Rechte aktiv wahrzunehmen. Die Kammer hat den hierzu bestellten Sachverständigen ausführlich und öffentlich angehört und befragt. Das Gericht hatte nicht darüber zu befinden, ob der Angeklagte in der Lage ist, „lockere Gespräche“ in der JVA zu führen.

    Der Mord am Augsburger Polizisten Mathias Vieth

    Der Augsburger Polizeibeamte Mathias Vieth wird am frühen Morgen des 28. Oktober 2011 im Augsburger Siebentischwald von unbekannten Tätern erschossen.

    Der Streifenbeamte und seine Kollegin wollen an diesem Freitagmorgen gegen drei Uhr auf einem Parkplatz am Augsburger Kuhsee ein Motorrad mit zwei Männern kontrollieren.

    Die beiden Verdächtigen flüchten sofort in den nahen Siebentischwald, die Beamten nehmen mit ihrem Streifenwagen die Verfolgung auf.

    Im Wald stürzen die Motorradfahrer. Dann kommt es zu einem Schusswechsel zwischen Beamten und Tätern. Der 41-jährige Polizeibeamte wird trotz Schutzweste tödlich am Hals getroffen, seine Kollegin durch einen Schuss an der Hüfte verletzt.

    Die Täter flüchten. Eine anschließende Großfahndung, an der sich mehrere hundert Polizeibeamte beteiligen, bleibt ohne Erfolg.

    Die Augsburger Polizei richtet noch am gleichen Tag eine Sonderkommission ein. Der Soko "Spickel", benannt nach dem Augsburger Stadtteil, in dem die Tat geschah, gehören zunächst 40 Beamte an.

    Zwei Tage nach dem Polizistenmord geben die Ermittler bekannt, dass das Motorrad der beiden Täter in der Nacht vom 10. auf den 11. Oktober 2011 im Stadtgebiet von Ingolstadt gestohlen worden war. Dabei wurde die rund 15 Jahre alte Honda kurzgeschlossen.

    Drei Tage nach dem tödlichen Schusswechsel rückt die Polizei erneut mit einem Großaufgebot im Augsburger Spickel an. Taucher von Polizei und Feuerwehr suchen in den Kanustrecken des Eiskanals nach Gegenständen.

    Am 3. November wird Mathias Vieth bestattet. Am gleichen Tag stockt die Polizei die Soko "Spickel" auf 50 Beamte auf. Zugleich wird die Belohnung, die zur Aufklärung des Polizistenmordes ausgesetzt ist, auf 10.000 Euro erhöht.

    Ein Abgleich von DNA-Spuren, die am Tatort gesichert werden konnten, mit der bundesweiten DNA-Datenbank ergibt laut Polizei keinen Treffer.

    Am 7. November findet im Augsburger Dom die offizielle Trauerfeier für Mathias Vieth statt. Auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann nimmt an ihr teilt.

    Zehn Tage nach dem Augsburger Polizistenmord greift die Sendung "Aktenzeichen XY" den Fall auf. Zwar gehen daraufhin mehrere Hinweise ein, eine heiße Spur ist aber nicht darunter.

    Dezember 2011: Die Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen, wird auf insgesamt 100.000 Euro erhöht.

    Am 29. Dezember 2011 nimmt die Polizei in Augsburg und Friedberg zwei Verdächtige fest. Es handelt sich um die Brüder Rudi R. (56) und Raimund M. (58). Schnell wird bekannt: Der Jüngere hat bereits 1975 einen Augsburger Polizisten erschossen.

    Nach der Festnahme entdecken die Fahnder etliche Waffen und auch Sprengstoff. Belastet wird einer der Verdächtigen durch DNA-Spuren, die am Tatort gefunden wurden.

    Auf die Spur der beiden Männer kamen die Ermittler über ein Fahrzeug. Der Wagen war in Tatortnähe beobachtet worden. Im Zuge der Ermittlungen stellte sich heraus, dass die beiden Brüder des Öfteren mit diesem Wagen unterwegs waren.

    Mitte Januar ergeht auch Haftbefehl gegen die Tochter von Raimund M.. Bei ihr wurden Anfang Januar drei Schnellfeuergewehre und acht Handgranaten gefunden, die ihr Vater und dessen Bruder Rudi R. versteckt haben sollen.

    Im Juli 2012 wird die Tochter von Raimund M. verurteilt. Das Gericht spricht sie wegen Verstößen gegen das Waffen- und Kriegswaffengesetz, wegen Geldwäsche, Hehlerei und Diebstahl schuldig.

    August 2012 Die Augsburger Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen die Brüder Raimund M., 60, und Rudi R., 58, wegen Mordes am Polizisten Mathias Vieth. Außerdem listet die Anklage fünf Raubüberfälle auf.

    Es zeichnet sich ein Mammutprozess ab. Das Landgericht Augsburg setzt mehr als 49 Verhandlungstage an.

    21. Februar 2013: Der Mordprozess gegen die Brüder beginnt unter großen Sicherheitsvorkehrungen - und mit einem Eklat. Rudi R. beschimpft den Staatsanwalt als "Drecksack".

    August 2013: Das Gericht hat den Mordkomplex abgearbeitet und beginnt mit der Beweisaufnahme zu den Raubüberfällen. Viele Beobachter rechnen mit einem Mordurteil.

    September 2013: Ein Gutachter stellt fest, dass sich M.s Gesundheitszustand nach 15-monatiger Isolationshaft so verschlechtert hat, dass er verhandlungsunfähig ist.

    November 2013: Das Gericht setzt den Prozess gegen M. aus. Er bleibt vorerst in Haft. Gegen seinen Bruder Rudi R. wird normal weiterverhandelt.

    Februar 2014: Rudi R. wird zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht sieht bei ihm eine besondere Schwere der Schuld und ordnet die anschließende Sicherungsverwahrung an.

    September 2014: Der neue Prozess gegen Raimund M. beginnt.

    Februar 2015: Der Bundesgerichtshof bestätigt das Augsburger Urteil gegen Rudolf R.

    Hat sich Raimund M. je einer Computertomografie unterzogen? Hat ihn je ein Parkinson-Spezialist untersucht und Behandlungsempfehlungen ausgesprochen? Wenn nein, warum nicht.

    Justizministerium: Es handelt sich um Details aus der Krankenakte, die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und zwingender gesetzlicher Vorgaben nicht vor einer Erörterung in einer öffentlicher Hauptverhandlung dargelegt werden dürfen.

    Wenn nein, warum nicht. Wenn ja, mit welchem Ergebnis?

    Justizministerium: Siehe vorige Frage.

    Ist es zutreffend, dass Raimund M. einen für den 28. Oktober 2013 geplanten Termin in der neurologischen Abteilung des Klinikums Großhadern über einen Verteidiger abgelehnt hat?

    Justizministerium: Es ist zutreffend, dass der Untersuchungsgefangene M. einen für den 28. Oktober 2013 angesetzten Termin in einem externen Krankenhaus über seinen Verteidiger abgelehnt hat. Dieser Termin hatte den Zweck einer näheren diagnostischen Abklärung seiner Erkrankung.

    Nach Recherchen unserer Zeitung bestehen in der JVA München-Stadelheim erhebliche Zweifel, ob Raimund M. die verordneten Medikamente tatsächlich einnimmt und bei sich behält. Wie wird dies überprüft und sichergestellt?

    Justizministerium: Dem Untersuchungsgefangenen werden die verordneten Medikamente durch Bedienstete des Krankenpflegedienstes verabreicht. Dass der Gefangene die Medikamente dauerhaft bei sich behält, kann nicht sichergestellt werden, weil der Gefangene nicht einer Dauerkontrolle unterliegt. Die verordneten Medikamente können aus medizinischen Gründen nicht in flüssiger Form appliziert werden.

    Nach Recherchen unserer Zeitung soll Raimund M. am Vormittag des 18. November 2013 und des 20. November 2013 eine Blutentnahme verweigert haben, mithilfe derer unter anderem überprüft werden sollte, ob er seine Medikamente gegen Parkinson zu sich nimmt und bei sich behält. Trifft dies zu? Wenn ja, hat das Augsburger Schwurgericht davon Kenntnis?

    Polizist Mathias Vieth wurde bei einem Einsatz erschossen. Seine mutmaßlichen Mörder stehen derzeit vor Gericht. 200 Zeugen werden im Augsburger  Polizistenmord-Prozess gehört.
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    Der Prozess um den Mord am Polizisten Mathias Vieth ist eines der größten Verfahren am Landgericht Augsburg gewesen. Die Bildergalerie zeigt seine Protagonisten.

    Justizministerium: Es ist zutreffend, dass der Gefangene zur Gewährleistung der Umsetzung des Therapiekonzepts am 18. November und erneut am 20. November 2013 vom Pflegedienst der Justizvollzugsanstalt aufgefordert worden ist, eine Blutuntersuchung vornehmen zu lassen. Diese Blutentnahme verweigerte der Gefangene an beiden Tagen. Das Landgericht Augsburg wurde hierüber informiert.

    Landgericht Augsburg: Das Gericht äußert sich während eines laufenden Verfahrens nicht zu seinen Erkenntnissen. Vielmehr trifft das Gericht Entscheidungen, die es gegebenenfalls gegenüber den Medien erklärt.

    Warum wurde zur Frage der Haftfähigkeit des Raimund M. bisher kein zweiter medizinischer Sachverständiger – etwa ein auf Parkinson-Erkrankung spezialisierter Neurologe – hinzugezogen? Ist dies geplant?

    28. Oktober 2011: Der Augsburger Polizeibeamte Mathias Vieth wird im Augsburger Siebentischwald erschossen.
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    Im Oktober 2011 wurde der Augsburger Polizeibeamte Mathias Vieth im Dienst erschossen. Die beiden Täter werden später verurteilt.

    Landgericht Augsburg: Anlass, einen weiteren Sachverständigen hinzuzuziehen, besteht nur dann, wenn die Sachkunde des befragten Sachverständigen zweifelhaft wäre. Das Gericht hat solche Zweifel nicht. Zweifel an der Sachkunde wurden zudem weder von der Staatsanwaltschaft, noch von den Nebenklägern oder den Verteidigern geltend gemacht.

    Trifft es zu, dass sich die JVA München entschieden gegen die Vorwürfe des Gutachters Schulte wehrt, dass Raimund M.s schlechter Gesundheitszustand durch die Vorgehensweise der Haftanstalt noch gesteigert werde?

    Justizministerium:  Die JVA München hat gegenüber dem Gericht umfänglich die nach ihrer Auffassung korrekte Behandlung des Gefangenen dargelegt und sich gegen die Unterstellung, die Justizvollzugsanstalt würde die empfohlene Behandlung nicht vollziehen, verwahrt.

    Ist es richtig, dass der Untersuchungsgefangene M. nicht gegen seinen Willen behandelt werden kann?

    Justizministerium: Ja.

    Raimund M. saß 15 Monate in Einzelhaft. Wurde regelmäßig überprüft, ob diese Maßnahme noch angemessen ist? Wenn ja, in welchen Abständen und wie? Wenn nein, warum nicht?

    Landgericht Augsburg: Das Schwurgericht hat unmittelbar reagiert, als sich durch einen Antrag der Verteidigung erstmals Hinweise auf eine mögliche Verhandlungsunfähigkeit eines der Angeklagten ergaben. Die Kammer hat sofort einen Sachverständigen mit der zeitnahen Begutachtung beauftragt und dessen Vorgaben unverzüglich an die JVA mit der Bitte um sofortige Umsetzung weitergegeben. Zugleich wurde die Einzelhaft aufgehoben.

    Ist es richtig, dass der „10-Punkte-Plan“, den Gutachter Schulte für die Behandlung des M. erstellt hat, zu großen Teilen nicht umgesetzt wurde? Wenn ja, warum nicht?

    Justizministerium: Die Empfehlungen des Gutachters, die dieser Ende September abgegeben („10-Punkte-Plan“) und in der Folge in seinen Stellungnahmen am 25.10.2013 und 11.11.2013 ergänzt, konkretisiert oder modifiziert hat, wurden und werden von der Justizvollzugsanstalt München umgesetzt. Nur bei wenigen Punkten ergaben sich Einschränkungen oder Verzögerungen. (Es folgt eine Auflistung der Maßnahmen)

    War das Justizministerium über die Probleme im Fall Raimund M. unterrichtet? Gab es Konsequenzen?

    Justizministerium: Seit Bekanntwerden der Behauptungen im Oktober 2013, die Verschlechterungen des Gesundheitszustandes des Raimund M. seien durch die Untersuchungshaft verstärkt worden, informieren die Anstalten regelmäßig die Aufsichtsbehörde. Die Justizvollzugsanstalt München berichtete die konsequente Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen; dazu zählt auch die Beiziehung externer Therapeuten. Die Anordnung besonderer Haftbedingungen – wie diesem Fall – ist Teil des gerichtlichen Verfahrens und gerichtlicher Entscheidungen.

    Neben der Parkinson-Erkrankung hat nach Ansicht von Dr. Schulte vor allem die lange Isolationshaft M.s Gesundheitszustand drastisch verschlechtert. Warum wurde die Umsetzung seiner Therapievorschläge vom Gerichts nicht sorgfältig überwacht?

    Landgericht Augsburg: Das Gericht hat die Empfehlungen des Sachverständigen bereits am 30.09.2013 an die JVA Straubing mit der Bitte um Umsetzung gefaxt. Die Kammer hat sich sowohl von der JVA über die Umsetzung informieren lassen als auch unter Einschaltung des Sachverständigen unter jeweiliger Information der Verteidiger überprüft, ob die bisherige Umsetzung ausreicht. Dies führte beispielsweise zur Verlegung des Angeklagten in die JVA München. Ferner wurde der Angeklagte mehrfach vom Sachverständigen aufgesucht und nachbegutachtet. Schließlich wurde das Gesamtergebnis am 13.11.2013 ausführlich in öffentlicher Verhandlung erörtert.

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