Nur einmal angenommen, Sie wollten eine Briefbombe verschicken, und der Sprengsatz ist schon fertig. Rein in ein Kuvert damit, Adresse und Briefmarke drauf und ab die Post...
Nein, so einfach ist es nicht. Sie müssen Größe und Farbe des Kuverts wählen. Sie entscheiden, ob das Kuvert ein Fenster hat oder nicht. Sie können den Umschlag mit der Hand, der Schreibmaschine oder dem Computer beschriften. Sie können einen falschen Absender draufschreiben oder gar keinen. Kleben Sie die richtige Briefmarke auf das Kuvert oder frankieren sie über? Kleben Sie die Marke sauber oder schlampig drauf, richtig herum oder auf den Kopf gestellt? Wo geben Sie den Brief auf?
Allein dieser einfache Arbeitsschritt umfasst zig Einzelentscheidungen. Wenn Ihnen dann eines Tages die Polizei auf den Fersen ist, kann es passieren, dass so genannte Profiler Ihre Entscheidungen „lesen“ und Ihr Verhalten analysieren.
Was genau ist passiert? Warum? Wer kann das getan haben? „Diese drei Kernfragen in dieser Reihenfolge leiten den Fallanalytiker“, sagt Alexander Horn, 37, Chef des Münchner Kommissariats für „Operative Fallanalyse“ (OFA). Groß, schlank, grauer Anzug, modisches Hemd, Krawatte. Schreibtafel und Computer im Büro. Er ginge als Unternehmensberater durch. Und er spricht auch so ähnlich: Von Qualitätsstandards ist da die Rede, von Statistiken, von „vertieftem Fallverständnis“. Das wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht amerikanische Fernsehserien das Bild vom Profiler in eine ganz andere Richtung gedreht hätten. Seriöse Profiler, die sich im deutschsprachigen Raum lieber „Fallanalytiker“ nennen, sind Spezialisten für aussichtslose Fälle. Sie konzentrieren sich auf die unauffälligen, ja unsichtbaren Spuren eines Verbrechens. Sie sammeln Fakten und bewerten das Verhalten des Täters. Sie präsentieren keinen Täter, sondern eine Art Blaupause, die dann mit Verdächtigen zu füllen ist. Sie sind keine Handflächenleser oder Wahrsager. Sie sind keine genialen Einzelgänger, die den Täter erschnuppern, sondern sie arbeiten im Team. Sie werden nicht von Visionen getrieben, sondern von Hypothesen. „Wir klären keine Fälle, wir sind nur Berater“, sagt Horn. Aber das ist natürlich stark untertrieben, denn ein wenig Wahrheit steckt hinter jeder Legende. Es gab da zum Beispiel diesen „Fall Mareike“, der zum Lehrstück für die damals noch recht junge Zunft der Profiler in Deutschland wurde. In einer trüben Oktobernacht 2003 verschwindet in Waldmünchen in der Oberpfalz die 20-jährige Textilarbeiterin Mareike G. Es gibt keine Spur von ihr, nur den Verdacht, dass sie einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Vier Monate nach Mareikes Verschwinden schaltet die zuständige Sonderkommission Alexander Horn und sein Team ein. Was ist passiert? Mareike lebte in einer Wohnung hinter dem Marktplatz. Ein Durchreisender aus Berlin wird sie dort kaum überrascht haben. Horn schließt auf eine Beziehungstat. Mareikes Umfeld wird durchleuchtet. Die hübsche junge Frau war fünf Jahre zuvor aus Brandenburg gekommen. Sie hatte in dem kleinen Ort schnell Kontakte geknüpft. Das macht es für die Ermittler leichter als bei isoliert lebenden Opfern. Der Beruf des Fallanalytikers lebt von Annahmen, einem breiten kriminalistischen Wissen und ein wenig Statistik. „Wir haben Fakten und dazwischen haben wir Löcher“, sagt Alexander Horn. Er weiß: In mehr als der Hälfte der Sexualmorde an Frauen zwischen sechs und 21 Jahren kommt der Täter aus dem Bekannten- oder Verwandtenkreis. Fast zu 100 Prozent ist der Täter ein Mann. Warum? Hauptkommissar Horn konstruiert einen möglichen Tathergang. Ein verschmähter Verehrer bringt die Frau um und sucht sorgfältig ein Versteck für die Leiche. Niemand darf die Tote finden, damit kein Verdacht auf ihn fällt. Nach dieser Theorie muss der Täter zum Umfeld gehört, nachts über ein Auto verfügt und das Opfer weit weg vom Tatort versteckt haben. Wer kann das getan haben? Die Kripo Regensburg vernimmt noch Zeugen, während die Fallanalytiker in München den Kreis der Verdächtigen immer enger ziehen. Sie machen sich daran – und das ist eben nur ein Teil der Arbeit eines Profilers –, ein Täterprofil zu erstellen. Die Spurensicherung gibt ihnen wertvolle Hinweise: Sie findet in Mareikes Wohnung winzigste Spuren eines Kampfes. Gut möglich, dass der Täter sein Opfer hier überraschte und tötete. „Wir schätzten den Täter als eine handlungsorientierte Persönlichkeit ein, die auch in einer ungeplanten Situation einen kühlen Kopf behält“, erinnert sich Horn. Und das gelingt einem 30-Jährigen besser als einem 19-Jährigen. Horns Team folgert, dass der Täter älter als Mareike ist. Am Ende all dieser Überlegungen bleiben aus dem weiteren Umfeld von Mareike G. fünf Personen, zu denen die Beschreibungen passen. Auf einen davon trifft das Täterprofil fast zu hundert Prozent zu. Es ist Stephan B., 30, Maschinenführer aus Mareikes Betrieb und verschmähter Verehrer. Nachdem er bereits als Zeuge ausgesagt hat, wird er als Beschuldigter vernommen – und gesteht. In derselben Nacht führt er die Ermittler zur Leiche von Mareike, die er mehr als 100 Kilometer vom Tatort entfernt vergraben hat. Dieses Beispiel zeigt, wie verschiedene Disziplinen bei der Fallanalyse ineinandergreifen: Psychologie, Spurensicherung, forensische Psychiatrie, Statistik. Horn hat die Methodik der Fallanalyse in Deutschland mit entwickelt. 1996 hatte die Münchner Polizei begonnen, die Spezialeinheit aufzubauen. Die intensive Ausbildung vom „normalen“ Kriminalkommissar zum Fallanalytiker dauert fünf Jahre. Die Profiler tragen eine hohe Verantwortung. Nicht selten geben sie die Richtung vor, in die eine vielköpfige Sonderkommission bei Verbrechensserien marschiert. Galten sie früher als Küchenpsychologen, wird ihr Rat heute bei jedem mysteriösen Verbrechen gesucht. Profiler erklären den Mordermittlern die „Handschrift“ des Täters. Ein gewöhnlicher Krimineller wechselt seine Vorgehensweise je nach Situation. Er wählt den einfachsten Weg. Die Handschrift aber verrät ein eigenes Bedürfnis des Täters. Er tut Dinge, die er zur Ausführung des Verbrechens nicht hätte tun müssen. Fallanalytiker sprechen von Schlüsselentscheidungen. Es gibt ein Zitat von Sigmund Freud dazu: „Unsere Persönlichkeit dringt uns jeden Tag aus allen Poren.“ Die Schlüsselentscheidungen sind nicht zu verwechseln mit einer bewussten Symbolik, die der Täter hinterlässt. Deren ewiggültige Chiffre ist Hannibal Lecter aus dem Film „Das Schweigen der Lämmer“. Doch der Streifen ist praktisch ein „Best of“ amerikanischer Serienmörder. Es ist eben Unterhaltung, nicht Realität. „Einen Hannibal Lecter hatten wir noch nie“, sagt Alexander Horn. Er räumt aber ein, dass es einen „CSI-Effekt“ gibt – die Täter lernen aus solchen populären Sendungen. „Das macht die Sache nicht einfacher für uns“, sagt Horn. Wenn Sie nun glauben, sich mit ihrer Briefbombe hinter einer bürgerlichen Fassade verschanzen zu können, Vorsicht: Profiler ziehen das ins Kalkül. Alexander Horn drückt es so aus: „Wir dürfen nicht an Mythen glauben. Ein Verbrecher ist kein Monster. Er ist eher jemand, der nach außen hin eine ganz normales Leben führt.“