Herrlich könnten die Beschäftigten den Blick in die Ferne schweifen lassen. Im vierten Stock des schicken Bürogebäudes in München sieht man nicht nur das Olympiastadion von 1972, den Fernsehturm und den BMW-Vierzylinder. Es ist an solch klaren Tagen auch möglich, Bayerns höchsten Berg, die Zugspitze, zu erspähen, an deren Fuß der Ort Garmisch-Partenkirchen liegt. Dieser Ausblick könnte motivieren. Doch alle Büros sind verwaist.
Hier im Münchner Norden sitzt die Olympia-Bewerbungsgesellschaft. Hier haben in Hochzeiten über 60 Mitarbeiter zweieinhalb Jahre lang daran gebastelt, einen Traum zu verwirklichen – die Olympischen Winterspiele in die Landeshauptstadt Bayerns zu holen.
Aus, vorbei. Die Glastür ist versperrt. Niemand zu sehen. Ein Plakat vor dem Empfangstresen kündet noch von den gerade zerplatzten Hoffnungen. „München 2018“ steht darauf. Nur ein kleiner roter Zettel weist darauf hin, dass die Büros heute und morgen nicht besetzt sind. Die Mitarbeiter befänden sich bei den Aufräumarbeiten des großen Festes am Marienplatz, heißt es.
Anna Lena Mühlhäuser nennt sich „Manager Communications“ der Bewerbungsgesellschaft. In den vergangenen Wochen sind die Sprecherin und ihre Kollegen an ihre Grenzen gegangen, um die Spiele nach München zu holen. Jetzt scheint der Akku leer zu sein. „Ich habe gestern Abend geweint“, gesteht sie am Telefon. Mühlhäuser spricht vom „The day after“, dem Tag danach. Das klingt fatalistisch.
Doch so schlimm ist es nicht. Nach einigen Stunden Schlaf hat sich die junge blonde Frau wieder gefangen. „So ist Sport“, sagt sie, „wer sich darauf einlässt, muss auch mit solchen Ergebnissen umgehen können.“ Ob sie bei einer erneuten Bewerbung, wie es schon Skifahrer Felix Neureuther und andere fordern, wieder mit dabei wäre? „Keine Ahnung“, sagt die Kommunikationsexpertin. Alles sei so frisch. Sie wolle sich dazu noch nicht äußern. Jetzt müsse erst einmal alles abgewickelt werden. Dann könne man weitersehen.
Apropos Abwicklung: Sechs Millionen Euro des 33-Millionen-Etats für den zerstörten Traum vom Wintermärchen 2018 trägt der Steuerzahler. Die gute Nachricht ist: Dem Bund, der Stadt und den Gemeinden bleiben drei Milliarden Euro erspart. So viel hätte es gekostet, die Spiele auszurichten.
90 Kilometer weiter südlich steigt Axel Doering aus seinem Auto, klopft die verlehmten Schuhe an einer Treppenstufe ab und schimpft: „Richtig matschig ist es im Wald nach dem ganzen Regen.“ So also sehen Sieger in Garmisch-Partenkirchen aus am Tag nach der Olympia-Entscheidung. Früh am Morgen hat er noch seine E-Mails gelesen, „90 Prozent Zustimmung“, sagt er. Und dann die zwei, in denen man ihn als „Vaterlandsverräter“ beschimpft, und da müsse doch der Verfassungsschutz tätig werden. Danach fuhr Doering in seinen Wald. Getroffen hat er keinen von denen, die ihm jetzt am liebsten an den Kragen gehen würden.
Axel Doering ist Förster und Kreisvorsitzender des Bund Naturschutz. Kariertes Hemd, grüne Cordhose, kurze, graue Haare. Ein durch und durch geradliniger Typ. So geradlinig, dass er jetzt im Büro seines großen, efeubewachsenen Hauses sitzt, vor Jagdtrophäen und Schützenscheiben, und sagt: „Ich habe als Olympia-Kritiker angefangen. Jetzt bin ich Olympia-Feind.“
Der Mann steht auf der einen Seite des Grabens, den die Bewerbung in der Marktgemeinde aufgerissen hat. Der langjährige Streit um Grundstücke, die die Münchner Organisatoren eingeplant hatten, ohne ein Wort mit den betroffenen Bauern zu sprechen, und deren Retourkutschen waren da nur ein Aspekt. Der über geplante Straßen, Tunnels und Gebäude, alles für viel, viel Geld, ein anderer. Und dass der Garmischer Steuerzahler jetzt auf einer Million Euro sitzen bleibe. Ganz zu schweigen von den Bürgerbegehren, die Anfang Mai die Auseinandersetzung auf die Spitze getrieben haben. Doering, quasi die Speerspitze des Protests, geht es um Grundsätzlicheres: „Garmisch-Partenkirchen ist zu klein für Olympia. Jetzt und für alle Zeit.“
Natürlich, sagt er dann, freue er sich, „dass der Kelch an uns vorübergegangen ist“. Die alpinen und die Sprung-Wettbewerbe hätten hier stattfinden sollen. Nun geht es ja vielleicht in eine neue Runde, 2022. Was das betrifft, versteht Axel Doering keinen Spaß: „Ich werde alles tun, um eine weitere Bewerbung zu verhindern.“ Und fängt gleich an, Öl ins Feuer zu gießen: „Sie werden sehen, morgen werden die sich schon streiten. Ums Geld, wer schuld ist an der Niederlage und wer jetzt die Guten und die Schlechten sind.“
Die, das sind die Olympia-Anhänger. Hört sich nicht so an, als wäre Doering um Versöhnung bemüht. Warum auch? „Manche Gräben werden sich nicht schließen. Dafür ist zu viel vorgefallen.“
Als nicht München, Garmisch und Königssee den Zuschlag erhielten, sondern Pyeongchang, saßen sie im Tierheim am Ortsrand, einem modernen Komplex aus Holzbungalows mit Solarkollektoren auf den Dächern und Tibet-Gebetsfahnen. 70 Mann, die gerade so in den Saal passten, in der Gegnerschaft zu Olympischen Winterspielen vereint. Und richtig gejubelt haben sie. Zu dem Zeitpunkt wurden ein paar hundert Meter weiter auf dem Mohrenplatz schon die ersten Biertische zusammengeklappt. Die Enttäuschung bei den 2500 zur Party Entschlossenen saß doch zu tief.
Am Morgen danach zeugen nur noch die Dienstfahrzeuge des Bayerischen Fernsehens davon, dass hier was Größeres stattgefunden haben muss. Es gleicht einem symbolischen Akt, als gegen halb elf ein Mann mit kurzen Hosen und Strohhut, einen Akkuschrauber in der Hand, eine Leiter erklimmt und ein Olympia-Transparent einholt. Das letzte, das weit und breit noch zu sehen ist. In den Stühlen der Straßencafés lehnen sich die Urlauber zurück. Als sei nichts gewesen.
Aber da war doch so viel. Die Idee, der Einsatz für die gute Sache, die Mühe, die man sich gemacht hat. „Das kann doch nicht mit einem Schlag vorbei sein“, sagt Heidi Mohr. Sie öffnet die Tür ihres Hauses in Mittenwald in einer schwarzen Sporthose und einem giftgrünen T-Shirt. Was Sportler eben so tragen. Ob sie nicht rüber nach Garmisch müsse, 20 Kilometer Richtung Nordwesten, um beim Aufräumen zu helfen? „Nein“, antwortet sie, „jetzt ist Schluss. Feierabend.“
Zumindest für den Moment. Heidi Mohr, 51, ist so etwas wie die gute Seele der Garmischer Olympia-Bewegung. Wo es etwas anzupacken gab, war sie nicht weit. Das liegt dann doch in der Familie. Ihr Mann Heinz, ein früherer Ski-Bundestrainer, hat viele Jahre den Olympia-Stützpunkt vor Ort geleitet und auch die Weltmeisterschaft im Februar mitorganisiert. Jetzt ist er im Vorruhestand, aber immer noch so aktiv, dass er die deutsche Delegation mit nach Durban begleitet hat.
Deshalb sitzt seine Frau nun alleine am großen Holztisch. Erzählt davon, dass die Bewerbergesellschaft schon ein paar Fehler gemacht habe und man sich im Ort „jetzt zusammentun“ müsse. Dass sie am Vorabend sehr traurig war und die Koreaner „ja so auf die Tränendrüse gedrückt“ hätten. Aber der Unterstützerverein „OlympiJa“ vielleicht trotzdem weitermache, weil das „eine so nette Gemeinschaft sei“. Und der Christian habe sich schließlich auch reingehängt, und die Rosi und der Franz.
Die Skifahrer im Werdenfelser Land reden so, wenn sie ihre Nationalhelden Christian Neureuther und Rosi Mittermaier meinen oder den Generalsekretär des Deutschen Eishockey-Bundes, Franz Reindl. Man kennt sich halt. Und deshalb sagt Rosi Mohr irgendwann: „Ich kann mir schon vorstellen, dass wir es noch einmal versuchen, 2022.“ Sagt es, lächelt ein spitzbübisches Lächeln und schaut hinein in ihre Wohnküche.
Die gute Stube Münchens ist der Marienplatz. Männer packen riesige Stahlteile auf Fahrzeuge mit Hebebühnen. Gabelstapler rollen Kisten hin und her. Die große Bühne, auf der der Olympia-Countdown gefeiert wurde, ist immer noch aufgebaut. Ansonsten erinnert in der Fußgängerzone nicht mehr viel an die Bewerbung. Die Menschen gehen entweder einkaufen oder ihren Geschäften nach.
Je weiter man die Treppen ins Münchner Rathaus hinaufsteigt, umso ruhiger wird es. Münchens zweite Bürgermeisterin Christina Strobl, die gerade Christian Ude vertritt, steckt voll im Alltagsgeschehen. „Ich komme gerade von einer Sitzung des Kommunalausschusses“, sagt sie. Thema: die Sanierung der Münchner Toilettenhäuschen. In einer Stadt, deren Einwohner und Vorzeige-Fußballverein sich gerne eine außergewöhnliche Siegermentalität zuschreiben, hält man sich mit Niederlagen nicht lange auf. Oder?
Falsch gedacht. „Ich war schon enttäuscht und bin es noch“, gesteht Strobl. Vor allem, dass die Entscheidung für Pyeongchang so klar ausgefallen ist, habe gesessen. 63 Stimmen für die Koreaner, für München nur 25, das sei bitter gewesen. Gründe dafür gibt es jede Menge, glaubt Strobl. Die meisten wurden am Abend zuvor schon ausführlich diskutiert. Vor allem das taktische Verhalten mancher europäischer Staaten, die sich selbst für Olympische Spiele bewerben wollen und ihre Chancen erhalten wollen.
„Die Münchner Bewerbung hätte ein besseres Ergebnis verdient gehabt“, sagt Strobl. Jetzt solle man die Lage erst einmal genau analysieren – dann könne man weitersehen, neue Pläne schmieden oder es sein lassen. Sie hofft allerdings, dass die für die Olympischen Spiele geplanten Verkehrsprojekte wie ein zweiter S-Bahn-Tunnel oder eine schnelle S-Bahn auch ohne Winterspiele 2018 zügig gebaut werden.
Grund zum Zweifeln gibt es. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer hatte schon angedeutet, eine rasche Verwirklichung der Milliardenprojekte sei nur schnell finanzierbar, wenn die Stadt den Zuschlag für die Winterspiele bekomme. Und nun?
Ramsauer hat nicht gesagt, dass das unbedingt die Spiele 2018 sein müssen. Strobl wiederum will eigentlich nicht kommentieren, ob sich München für 2022 wieder bewerben sollte. Am Ende rutscht ihr aber doch so etwas wie eine Meinungsäußerung heraus: „Wer die Spiele 1972 erlebt hat, der wünscht, so etwas in seinem Leben noch einmal zu erfahren.“ Ihr Lächeln bei diesem Satz ist eindeutig.