Im Unterallgäu haben Kolkraben Lämmer gerissen. Ist dieses aggressive Verhalten typisch für die Vögel?
Lindeiner: Dieses Verhalten wirkt nur aggressiv, ist es aber nicht. Kolkraben sind intelligente Tiere, die auch Aas fressen. Für sie ist es nicht ungewöhnlich, vorgeschädigte Tiere, deren Überlebenschancen prinzipiell niedrig sind, als Beute zu betrachten. Konkret können dies Lämmer sein, die von Darmparasiten befallen sind oder geschwächte Zweitgeburten. Für Kolkraben sind das optimale Futterquellen. Horrorszenarien à la Hitchcock sind Stimmungsmache und vollkommen fehl am Platz.
Wenn dieses Verhalten nicht außergewöhnlich ist, wie kann dem Schäfer im Unterallgäu dann geholfen werden?
Lindeiner: Das Abschießen dreier Vögel, wie es die Behörden nun erlaubt haben, ist nicht zielführend. Kolkraben sind viel zu intelligent, als dass sie nicht kurzfristig Anpassungsstrategien finden würden. Sinnvoller wäre es, andere Faktoren zu untersuchen. Dies wäre unter anderem die Schäferei, denn es wäre sehr ungewöhnlich und überraschend, wenn die Vögel kerngesunde Tiere anfallen würden.
Und was kann der Schäfer selbst unternehmen?
Lindeiner: Der Schäfer müsste die Nahrungsquelle für die Kolkraben uninteressant machen. Je nach Größe der Weide könnte schon ein Schäferhund reichen, der die Kolkraben aufscheucht. Binnen weniger Tage könnten die Vögel so das Interesse an den Schafen verlieren und weiterziehen.
Kolkraben sind in Bayern nicht sehr häufig zu finden. Wie erklären Sie die hohe Präsenz der Vögel in der Region?
Lindeiner: In der Tat sind Kolkraben eher im Alpenraum und in den Mittelgebirgen zu Hause. Ich vermute, dass eine Biogasanlage in der Nähe, die Speisereste wiederverwertet, ein Grund sein könnte. Falls dort die Reste offen lagern, könnte dies eine Rolle spielen und die Kolkraben angelockt haben.
Sind Ihnen ähnliche Fälle bekannt?
Lindeiner: Ja, in Brandenburg leidet ein Hof momentan ebenfalls unter Kolkraben. Dort sind es bis zu 300 Vögel, die zum Teil das Tierfutter aus den Trögen fressen. Vor zwei Jahren gab es außerdem einen ähnlichen Vorfall in Baden-Württemberg. Kolkraben, hieß es, fielen auf der Schwäbischen Alb metzelnd über Schafe her. Es handelte sich um ungefähr 100 Vögel, die die Zeitungen des Ländle als „Lämmerkiller“ bezeichneten. (reid)
Zur Person: Andreas von Lindeiner ist Leiter des Referats für Artenschutz beim Landesbund für Vogelschutz (LBV) in Hilpoltstein.