Sibylle Ehringhaus gehört zu den Kunsthistorikerinnen, die die Sammlung Gurlitt nach der Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft Augsburg als erste begutachten konnten. Die Berlinerin ist Expertin für deutsche Kunst im 19. Jahrhundert. Sie hat sich einen Namen als Autorin und Herkunftsforscherin gemacht. Für die öffentliche Hand, Auktionshäuser, den Kunsthandel und private Auftraggeber untersucht sie die Herkunft von Kunstwerken – „im Idealfall ausgehend vom Künstler bis zum aktuellen Besitzer“. Unsere Zeitung sprach mit Sibylle Ehringhaus über den Schwabinger Kunstfund.
Wann und wo konnten Sie die Sammlung von Cornelius Gurlitt sichten?
Ehringhaus: Das war vor anderthalb Jahren. Die Sammlung war gerade von der Staatsanwaltschaft gesichert worden. Da ich Spezialistin für das 19. Jahrhundert bin, hat man mich gefragt. In der Tat waren ja auch ältere Werke dabei. Es musste alles ganz schnell gehen. Wir hatten nur zwei Tage Zeit, die Sammlung zu sichten. Das ist natürlich nicht viel. Über die Hintergründe des Falls wusste ich zu diesem Zeitpunkt kaum etwas.
Wie war der Zustand der Werke?
Ehringhaus: Der Zustand war für eine Sammlung in privater Hand sehr gut. Dadurch, dass Cornelius Gurlitt die Bilder dunkel gelagert hatte, waren die Farben außergewöhnlich frisch. Es handelt sich um ganz unterschiedliche, sehr verschiedenartige Kunstwerke. Von Studien, über Zeichnungen bis hin zu Gemälden.
Was war das für Sie für ein Gefühl, eine solche unbekannte Sammlung mit als erste Wissenschaftlerin zu sehen?
Ehringhaus: Das war natürlich keine Routine. Die Qualität und der Umfang des Konvoluts sind schließlich außergewöhnlich. Das alles war für mich hochinteressant, da geht einem das Herz auf.
Was haben Sie gedacht, als in den Medien von einer Milliarde Euro als Wert für die Sammlung die Rede war?
Ehringhaus: Das ist alles nicht nur völlig hypothetisch, sondern unseriös. Einmal abgesehen davon, dass die Summe von Leuten ins Spiel gebracht wurde, die die Sammlung zu diesem Zeitpunkt gar nicht kannten – einen Wert hochzurechnen, ist unmöglich. Erlöse sind nicht kalkulierbar. Doch so eine mediale Aufgeregtheit entsteht eben, wenn es um viel Geld geht. Ich bin aber zuversichtlich, dass die ganze Debatte jetzt in solideren Bahnen verläuft. Nach all den Irrwegen.
Die Sammlung ist nicht mehr im Besitz von Herrn Gurlitt. Halten Sie das für richtig?
Ehringhaus: Nein. Der Staat hat hier auf die Sammlung eines Privatmannes zugegriffen, als es um ein vermeintliches Steuerdelikt ging. Schon das ist äußerst fragwürdig. Es fehlt meiner Ansicht nach schlicht die juristische Grundlage, Gurlitt die Kunstwerke wegzunehmen. Gleiches gilt für die Veröffentlichung der Bilder. Was der Vater Hildebrand Gurlitt getan oder nicht getan hat, ist die eine Sache. Aber Sippenhaft ist glücklicherweise abgeschafft. Wenn ich als Provenienzforscherin einen Auftrag von einem Privatmann erhalte, werde ich tätig. Cornelius Gurlitt hat aber weder mich noch jemand anderes beauftragt. Und das muss er auch nicht. Ich könnte heute nicht mit gutem Gewissen die Herkunft dieser Bilder erforschen.
Was muss nun geschehen?
Ehringhaus: Die Bilder gehören Gurlitt. Die Sammlung muss so schnell wie möglich an ihn zurückgegeben werden – und zwar komplett. Wie und wo das geschehen kann, ist heute schwierig zu sagen. Der Staat hat hier einen Fehler begangen, den er zunächst eingestehen und dann – soweit das überhaupt geht – wieder gutmachen sollte. Gleichzeitig muss er für den Schutz des Mannes sorgen, dessen Leben völlig aus den Fugen geraten ist.
Was ist mit der moralischen Dimension der Debatte? Müssen nicht zumindest alle staatliche Museen endlich überprüfen, ob Raubkunst in ihren Depots lagert, und die Werke gegebenenfalls an die früheren Eigentümer zurückgeben?
Ehringhaus: Genau das sehe ich als die dringendste Aufgabe an, die zu bewältigen ist. Wenn das politisch gewollt ist, müssen endlich auch die Bedingungen für eine Überprüfung der öffentlichen Sammlungen in einem angemessenen Zeitraum geschaffen werden. Das geht allerdings nur mit Experten, also Provenienzforschern, für die unbefristete Stellen an den Museen geschaffen werden müssten.