In uns allen steckt ein Mörder - davon ist der frühere Chef der Münchner Mordkommission, Josef Wilfling, überzeugt. "Täglich werden Menschen zu Mördern, von denen niemand geglaubt hätte, dass sie jemals zu solchen Taten fähig sein könnten - am allerwenigsten sie selbst", schreibt Wilfling in seinem Buch "Unheil", das Anfang der Woche erschienen ist. Mit dem Untertitel "Warum jeder zum Mörder werden kann", schildert er auf 300 Seiten Fälle aus 22 Jahren als Mordermittler - und zeichnet klar das Bild: Der Mörder, das ist oft ein Mensch wie du und ich. Bereits in seinem ersten Buch "Abgründe – Wenn aus Menschen Mörder werden", beschrieb er spektakuläre Fälle der Mordkommission.
Wilfing hat auch den Mord an Rudolph Moshammer aufgeklärt
Der brave Familienvater, der seine Frau umbringt, als er sie in flagranti beim Seitensprung erwischt; der Baggerfahrer, der nach jahrelangem Mobbing seinen Bauleiter zwischen den Schaufeln zermalmt; der erwachsene Sohn, der seine Mutter mit dem Samuraischwert köpft, weil er ausziehen und arbeiten soll - minuziös beschreibt der 65-Jährige, der sieben Jahre lang die Mordkommission leitete, Fälle aus seiner Dienstzeit.
Viele spektakuläre Verbrechen hat Wilfling aufgeklärt, darunter die Morde am Modezaren Rudolph Moshammer und dem homosexuellen Schauspieler Walter Sedlmayr. Wilfling galt als Vernehmungstalent. "Meine Methode war Menschlichkeit, nicht Obrigkeit", sagt er. "Man darf selbst einen Kindermörder nicht von oben herab betrachten." Mit Einfühlung und Verständnis für Versuche, die Schuld abzuwälzen, überzeugte er manchen Täter: "Dass die Wahrheit für ihn das Beste ist".
Wilfing: Beziehungstaten kommen auf häufigsten vor
Auf den ersten Blick geht es um Habgier, Eifersucht, Wut, drohende Trennung, finanziellen Ruin. Immer wieder versuchte Wilfling, sich in Täter und Opfer hineinzuversetzen, kam auf die richtige Spur - und fand auch ein Motiv hinter dem Motiv: "Die Angst ist eine ganz wesentliche Triebfeder." Die unheilvolle Entwicklung beginne vielfach mit Existenz- oder Zukunftsangst. "Die Angst, das zu verlieren, was man erreicht hat im Leben, kann Menschen sehr gefährlich machen."
Die allermeisten Taten seien Beziehungstaten, sagt Wilfling. Sie geschehen meist in den eigenen vier Wänden. "Jedenfalls werden nirgendwo mehr Menschen getötet als in vertrauter Umgebung - ausgerechnet dort also, wo man sich am geborgensten und sichersten fühlt", schreibt er. Nur zehn Prozent der Tötungsdelikte gingen auf das Konto von Gewalt- und Gewohnheitsverbrechern, und hier seien die Tötungsarten eher "kurz und schmerzlos". Am grausamsten gehe es zu, wo Menschen sich nahe stünden. Hier entlade sich oft lange angestaute Emotion.
Deutschland gilt als eines der sichersten Länder
Ähnliche Erfahrungen hat die Justiz. Auch die Münchner Oberstaatsanwältin und Vizevorsitzende des Deutschen Richterbundes, Andrea Titz, sieht bei Beziehungstaten das größere Maß an Grausamkeit - sie machten auch die meisten Fälle aus. "Taten, bei denen mafiose Strukturen oder Bandenkriminalität der Tathintergrund waren, sind aus meiner Erfahrung der verschwindend geringe Anteil."
Laut Wilfling ist Deutschland mit einer Tötungsrate von 1,2 Fällen pro 100 000 Einwohner eines der sichersten Ländern. Weltweit liege die Quote bei 7,1. Zudem sinke die Zahl der Tötungsdelikte. Dafür gebe es verschiedene Gründe wie Abschreckung durch die DNA-Analyse. Aber auch die wachsende Selbständigkeit bei den Frauen, die nicht mehr bei einem gewalttätigen Mann blieben, bis er sie vielleicht töte, führe zu einer niedrigeren Quote. "Es ist ein ganzes Bündel einzelner Entwicklungen."
Mord an den Mädchen aus Krailing hat ihn schwer erschüttert
Schwer erschüttert habe ihn der blutige Mord an den beiden Mädchen aus Krailling. Der eigene Onkel soll sie erschlagen haben, um an ein Erbe zu kommen. "Ich bin heilfroh, dass ich diese Bilder nicht sehen musste. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es noch Schlimmeres gibt." Sollte die Anklage recht behalten, ging es auch hier um Angst: Der unbescholtene Familienvater soll vor dem Ruin gestanden haben, der Familie drohte laut Staatsanwaltschaft die Zwangsversteigerung des Eigenheims.
Wilfling hat sich ein hohes Ziel gesetzt: Er hofft, mit seiner provokanten These vom Mörder in uns allen das eine oder andere Verbrechen zu verhindern. "Ich will den Menschen einen Spiegel vorhalten. Ich hoffe sogar, dass der eine oder andere erkennt: Hoppla, ich befinde mich in so einer Entwicklung." dpa/AZ