Frau Prof. Schilcher, fast jeder fünfte Viertklässler in Deutschland hat Probleme, den Sinn eines altersgemäßen Textes zu verstehen. Warum ist dies besorgniserregend?
Anita Schilcher: Der Umgang mit Schriftsprache spielt für die Teilhabe an der Gesellschaft und alle Prozesse des Lernens eine wichtige Rolle. Wir wissen, dass Kinder, die bis zur vierten Klasse nicht ausreichend gut lesen können, dies später kaum mehr nachholen können. Studien zeigen, dass Kinder, die in der Grundschule keine ausreichende Lesekompetenz erworben haben, auch bis zur achten oder neunten Klasse kaum mehr Fortschritte machen.
Welche Lesekompetenz sollte ein Viertklässler denn haben?
Schilcher: Der Begriff der "Lesekompetenz" umfasst verschiedene Aspekte. Zum einen den Leseprozess selbst, aber auch individuelle und soziale Aspekte wie die Lesemotivation, Interessen oder die Bedeutung des Lesens in der sozialen Umgebung. Auf der Ebene des Leseprozesses unterscheidet man zwei verschiedene Aspekte: auf der einen Seite die Leseflüssigkeit, das heißt die Dekodierleistung, die in einer ausreichenden Geschwindigkeit und Sicherheit vorhanden sein muss. Auf der anderen Seite sind es die Lesestrategien, wie man einen Text erfasst, also wie man Informationen entnimmt und mit seinem Vorwissen verbindet.
Wie gestaltet sich der Prozess des Lesenlernens in der Schule?
Schilcher: Es ist wahrscheinlich eines der zentralen Probleme, dass der Erwerb der Schriftsprache im Großen und Ganzen nur in der ersten Klasse stattfindet. In dieser Jahrgangsstufe ist er sehr stark strukturiert und sehr effizient gestaltet. Für die allermeisten Kinder funktioniert das Lesenlernen auch gut. Aber schon in der zweiten Klasse gibt es in der Regel keinen aufbauenden, systematischen Leselehrgang mehr, sondern es ist eher dem Zufall und der Lehrkraft überlassen, wie sich der Ausbau der Lesefertigkeiten gestaltet. Es wäre aber wichtig, ab der zweiten Klasse systematisch den Ausbau der Leseflüssigkeit und die Verwendung geeigneter Lesestrategien zu fördern. Gerade die Vermittlung von Lesestrategien müsste sich über das ganze Schuljahr ziehen, damit diese ins Repertoire der Kinder übergehen und zunehmend automatisiert werden.
Ist dies nicht im Lehrplan vorgesehen?
Schilcher: Im neuen Lehrplan für die Grundschule schon, aber den gibt es erst seit 2014 und es gibt bislang kaum geeignete Materialien, auf die die Lehrkräfte zurückgreifen können. Wir wissen aus eigenen Projekten, dass es gar nicht so einfach ist, geeignete Texte zu finden, mit denen die Schüler und Schülerinnen effizient trainieren können.
Beginnt lesen lernen tatsächlich erst mit der Grundschule oder setzt es schon früher ein?
Schilcher: Schon vor dem Schuleintritt haben die Kinder Kontakt mit Schriftsprache, etwa durch Sprachspiele, Vorlesen oder die Begegnung mit Schrift im Alltag. Dadurch entwickeln sich bestimmte Vorläuferfähigkeiten, etwa dass man Wörter segmentieren oder Reime bilden kann, also ein Bewusstsein für die Lautstruktur von Sprache entwickelt. Kinder ahmen aber auch die Tätigkeit der Erwachsenen nach, das heißt, wenn Kinder ihre Eltern beim Lesen beobachten, wollen sie dies auch lernen.
Das heißt also, dass Leseförderung schon viel früher einsetzen kann, etwa durch das Vorlesen?
Schilcher: Ja, weil Kinder durch Vorlesen ein Gefühl für die Schriftsprache erwerben. Man unterschätzt nämlich, wie sehr sich die Schriftsprache von der mündlichen Alltagssprache unterscheidet. Ein ganz typisches Beispiel dafür ist – nicht nur bei bayerischen Kindern, aber bei ihnen ganz besonders – die Verwendung des Präteritums, die erste Vergangenheitsform. Im gesprochenen Bairisch wird für die Vergangenheit meist das Perfekt verwendet. Das Präteritum lernen die Kinder nur durch das Vorlesen kennen. Wenn Schüler also schreiben "Rotkäppchen gang in den Wald", dann ist das eine ganz typisches Zeichen, dass ihnen die korrekte Vergangenheitsform nicht vertraut ist. Und wenn etwas nicht vertraut ist, kann man es auch nur sehr schwer erlesen. Vorlesen vermittelt also Vorwissen, das dazu beiträgt, dass man sich später schneller im Text zurechtfindet.
Welche weiteren Ursachen für die mangelnde Lesekompetenz gibt es?
Schilcher: Ganz verschiedene Aspekte sind dafür verantwortlich. Jede Lesestudie stellt fest, dass der statistische Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischem Status der Eltern und der Lesekompetenz der Kinder in Deutschland besonders groß ist. Darüber hinaus wird von schulischer Seite der Gedanke des "No child left behind", wie er zum Beispiel in den USA umgesetzt wird, weniger konsequent verfolgt. Dort wird regelmäßig der Lesefortschritt getestet und ein Kind, das zurückfällt, bekommt spezielle Förderung – etwa Einzelunterricht – bis es wieder das Niveau der Klasse erreicht hat.
Und bei uns?
Schilcher: Bei uns gehen Kinder mit geringer Lesefähigkeit oft unter, weil sie Strategien entwickeln, um zu verbergen, dass sie nicht gut lesen können. Texte für die erste Klasse lassen sich gut auswendig lernen. Deshalb benötigen Lehrer eine sehr gute Diagnosekompetenz, um Leseschwächen zu erkennen. In der Ausbildung der Lehrer spielt das aber erst seit etwa zehn Jahren eine prominentere Rolle. Das war in der Vergangenheit sicher nicht optimal.
Naheliegend ist, dass man die fehlende Lesekompetenz auch den veränderten Lebensumständen von Kindern wie Computerspielen oder Handygebrauch zuschreibt. Sehen Sie das auch so?
Schilcher: Dazu gibt es meines Wissens keine empirischen Ergebnisse. Fakt ist aber, dass unter den "Medienenthusiasten" mehr schwache Leser vertreten sind. Ich würde das eher so sehen, dass der Stellenwert des Buches gerade bei schwach lesenden Kindern geringer ist, weil digitale Medien oft höhere und schnellere Gratifikationen bieten. Dadurch wird die Zeit, die Büchern in der Freizeit gewidmet wird, geringer. Gerade bei schwachen Lesern führen die neuen Medien dann zu einer Verdrängung des Buches. In der Gruppe der Mädchen gibt es aber auch viele, die Buch und digitale Medien gleichermaßen intensiv nutzen. Je nachdem, was man mit den digitalen Medien macht, erfordern ja auch diese zum Teil eine sehr hohe Lesekompetenz. Diese Frage lässt sich also nicht pauschal beantworten.
Sie haben es schon angesprochen: In Deutschland hängt das Lesevermögen wie in kaum einem anderen Land vom Elternhaus ab. Vor welche Herausforderungen stellt das die Schule?
Lesetipps
Seinen Anfang nimmt alles in der Turmgasse. Dort hat Mr. Morrison seine Magische Zoohandlung – und Kinder mit viel Glück bekommen dort ein sprechendes Tier, das ihnen in der Schule und auch sonst immer aus der Patsche hilft. Gerade ist Versteinert, Band neun von Die Schule der magischen Tiere (Carlsen Verlag, 240 Seiten, 9,99 Euro) erschienen. Die Bücher der Eichstätter Autorin Margit Auer sind spannend, machen die Figuren schnell zu besten Freunden der Leser und eignen sich für Mädchen und Buben ab acht Jahren – oder schon früher zum Vorlesen. Und wer die Zeit zwischen zwei Bänden für einen Familienausflug nutzen möchte: In Wirklichkeit liegt die enge Turmgasse in der Altstadt von Eichstätt.
Der Giraffe in der Savanne ist langweilig und weil der Pelikan gerade eine Poststelle eröffnet hat, kommt sie auf die Idee, einen Brief an ein Tier "hinter dem Horizont" zu schreiben. Daraus entwickelt sich in Megumi Iwasas Viele Grüße, Deine Giraffe (Moritz Verlag, 112 Seiten, 10,95 Euro) eine zauberhafte Brieffreundschaft mit dem Pinguin: Zwei Welten treffen aufeinander und nicht immer entsprechen die Vorstellungen, die sich die beiden voneinander machen, der Realität. "Wie sieht denn ein Hals aus", fragt sich der Pinguin, als er erfährt, dass die Giraffe ein besonders langes Exemplar hat – er kennt dieses Körperteil schließlich nicht. So wird das Briefe schreiben zum großen Abenteuer: die Neugier auf Unbekanntes, die Sehnsucht nach Antwort und die Freude über die Mitteilungen wechseln sich in dieser amüsanten Geschichte für Erstleser ab, bis die beiden Freunde sich schließlich auch persönlich begegnen – und eine riesige Überraschung erleben. Der einfache, aber pointierte Text wird mit vielen lustigen Zeichnungen von Jörg Mühle aufgelockert.
Weil ihre Eltern genug von dem Tumult mit fünf Kindern und deren Freunden haben, müssen die beiden ältesten, Tim und Marty, in den Sommerferien täglich drei Stunden in der städtischen Bücherei verbringen. Dort führt die strenge Bibliothekarin Mrs. Murphy das Regiment. Die beiden Brüder ahnen Schreckliches, nicht nur weil die resolute Dame mit Kartoffeln auf ungehorsame Kinder schießen soll, sondern auch, weil all die Bücher um sie herum wenig Spaß versprechen. Wie sich die beiden Brüder mit Mrs. Murphy ein Scharmützel ums andere liefern und dabei langsam ihre Lust zu lesen entdecken, schildert Eoin Colfer in Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy (Gulliver, 104 Seiten, 5,95 Euro) mit bestem britischem Humor und hinreißend anarchisch.
Dieses Buch ist gewiss nichts für Erstleser und Lesemuffel – dafür ist es einfach viel zu dick. Da kommen nur geübte Leser durch, oder Vorleser, die mit dieser kruden Geschichte aber genauso großen Spaß haben werden wie ihre Zuhörer ab acht Jahren. Denn Die wilden Piroggenpiraten von Maris Putins (Fischer, 656 Seiten, 9,99 Euro) ist eine ebenso spannende wie umwerfend komische Geschichte: Ihre Figuren sind allesamt Gebäckteilchen oder andere Nahrungsmittel, angefangen von der wagemutigen Mohnschnecke Eloise, die von den wilden Piroggenpiraten entführt wird. Ihre Verehrer Eclair und Hörnchen und Ott Pelmeni machen sich auf unterschiedlichen Wegen auf, sie zu retten. Viele witzige Anspielungen und Sprachschöpfungen halten die (Vor-)Leser bei Laune und ganz nebenbei geht es auch darum, wie man zu sich und seinen Wünschen steht. Ein großartiger Abenteuerroman, der vor Originalität sprudelt und dabei brillant erzählt ist.
"Aus Schweden" ist für Krimis mittlerweile ein Gütesiegel und dass dies nicht nur für Erwachsenenromane gilt, zeigt der Kinderbuchautor Ulf Nilssons in seinen Büchern um den kauzigen Kommissar Gordon. Leser ab acht Jahren schließen den Krötendetektiv bei seinem ersten Fall (Moritz, 112 Seiten, 11,95 Euro) sofort in ihr Herz. Er neigt nicht zu Überaktivität, mag Muffins mit Marmeladenfüllung und macht es sich eigentlich lieber bei einer Tasse Tee in seiner Polizeistation gemütlich als sich in Gefahr zu begeben. Aber dann verschwindet der Nüsse-Wintervorrat des Eichhörnchens und der alte Kommissar muss raus in den Wald und ermitteln. Wie der Fall ausgeht, ist nicht vorhersehbar und beschert großen Spaß beim Kombinieren und Rätseln.
Mittlerweile gibt es vier Fälle, die Kommissar Gordon mit seiner pfiffigen Mäuseassistentin lösen muss.
Sachthemen locken oft auch Jungen zu Büchern, und wenn ein wenig Abenteuer dabei ist, umso mehr. Eine feine Mischung aus informativem und spannendem Erzählen ist Silke Vry in ihrem Sachbuch Verborgene Schätze, versunkene Welten (Gerstenberg, 160 Seiten, 24,95 Euro) gelungen. 21 Geschichten handeln davon, wie mit großer Beharrlichkeit und Überzeugung, oft aber auch nur durch Glück und Zufall sensationelle Funde gelangen. Natürlich fehlen in diesem Kreis nicht Heinrich Schliemanns Entdeckung Trojas oder die Öffnung des Grabes von Tutanchamun durch Howard Carter. Aber auch unbekanntere Episoden der Archäologiegeschichte hat die Archäologin und Kunsthistorikerin aufgetan: Wie der chinesische Bauer Yang Zhifa beim Graben eines Brunnens auf die Terrakotta-Armee des Kaisers stieß oder der Unterwasserarchäologe Franck Goddio Teile des Königviertels von Alexandria im Meer entdeckte. Auch dieses Buch eignet sich schon für jüngere Kinder unter zehn Jahren hervorragend zum Vorlesen und Anschauen, denn Martin Haake hat die Entdeckungen in großartig gestalteten Illustrationen ins Bild gesetzt.
Das Logbuch eines berühmten Polarforschers ist aus dem "Museum für fast brillante Erfindungen" verschwunden und Ros Mutter wird verdächtigt, es gestohlen zu haben. Eine Mutter, die im Gefängnis sitzt – was das für einen zehnjährigen Jungen heißt, beschreibt Simon van der Geest in Das geheime Logbuch, das magnetische Mädchen und eine fast brillante Erfindung (Thienemann, 240 Seiten, 11,99 Euro) sehr eindrücklich: wie Ro sich nicht traut, in der Klasse darüber zu sprechen, wie hilflos er ist angesichts seines verzweifelten Vaters, der nur noch vor der Playstation sitzt. Allzu traurig ist dieses Buch für Neun- bis Zehnjährige trotzdem nicht. Denn es gibt einiges zu lachen, wenn Ro und seine Freunde Archie und Lela einen Ausbruchsplan schmieden und dafür Campingzelte und 20000 Liter Helium beschaffen müssen. (m-b/sari)
Schilcher: Auffangen könnte man das durch gute Bildungsangebote in Kitas und Grundschulen, aber nicht in viereinhalb Stunden am Vormittag. Das müsste intensiv in Ganztags-Kitas und -Schulen durch gut ausgebildetes Personal passieren.
Ist schon etwas gewonnen, wenn man Kinder mehr zum Lesen motiviert, etwa durch spezielle Angebote wie Lesenächte oder Klassenbibliotheken?
Schilcher: Eigentlich nicht. Im Gegenteil: Wir wissen, dass durch den bunten Lesekoffer mit vielen tollen Büchern gerade den Kindern, die nicht gut lesen können, ihr Unvermögen vorgeführt wird. Natürlich ist eine Lesenacht ein tolles Erlebnis, aber man muss sich von der reinen Animation lösen und stärker die Lesetechnik trainieren, um die Lesekompetenz zu fördern. Die stärkste Lesemotivation entsteht dadurch, dass man die eigenen Fortschritte beim Lesen wahrnimmt.
Die Universität Regensburg hat dafür ein Lesetraining entwickelt, das Lehrer im Unterricht anwenden können. Wie sieht das aus?
Schilcher: Wir haben das im Rahmen eines EU-Projektes als strategischer Partner der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Graz entwickelt. Es umfasst das Leseflüssigkeitstraining "Filius" für die zweite Klasse und das Lesestrategietraining "Filia" für die dritte Klasse. Das Leseflüssigkeitstraining beruht darauf, dass die Schüler passend zum Lehrplan der Grundschule Sachtexte bekommen, die sie in Begleitung eines kompetenten Lesemodells selbst erlesen. Durch unterschiedliche Sprechgeschwindigkeit des Lesemodells auf der CD kann jedes Kind individuell auf seinem eigenen Leistungsniveau trainieren. Insgesamt lesen die Kinder den Text dreimal: Zuerst lesen sie leise mit, dann halblaut, beim dritten Mal lesen sie sich ohne CD gegenseitig Textteile vor. Das hat den Vorteil, dass sich der Sichtwortschatz erhöht, weil man den Text ziemlich oft wiederholt.
Was bringt das?
Schilcher: Dadurch prägen sich nicht nur Wörter ein, sondern auch der Sprachduktus des professionellen Sprechers. So profitieren auch die schwächeren Kinder und lernen, flüssiger zu lesen. Das ist die Voraussetzung, um Texte zu verstehen. Der Lerneffekt kommt also durch regelmäßiges Wiederholen und die Differenzierung. Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert das Lesestrategietraining für die 3. Klassen.
Was können Eltern tun, wenn sie feststellen, dass sich ihre Kinder schwer tun mit dem Lesen?
Schilcher: Die Leseflüssigkeit kann man mit einer Stoppuhr auch zu Hause ganz gut messen und an altersgemäßen Texten trainieren. In der zweiten Klasse sollte ein Kind etwa 80 Wörter pro Minute lesen können, in der 3. Klasse sollte die Zahl gegen 100 gehen. Wenn man das übt, sieht das Kind sehr schnell die Fortschritte. Diese Wahrnehmung des eigenen Erfolgs ist der stärkste Anreiz für Kinder zu lesen. Dies ist ein Aspekt, den man in der Leseförderung viel stärker berücksichtigen sollte. Und anstrengungsfreies Lesen ist dann auch die Voraussetzung für genussvolles Lesen.
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