Manipulierte Zeugenaussagen und ein erzwungenes Geständnis - die Autoren Christoph Lemmer und Ina Jung werfen in ihrem Buch "Der Fall Peggy" den Ermittlern vor, nach dem Verschwinden des neunjährigen Mädchens am 7. Mai 2001 wissentlich falsch ermittelt zu haben. Und sie kommen zu dem Schluss, dass dem Verurteilten Ulvi. K das Geständnis in den Mund gelegt wurde. Kurz vor der Wiederaufnahme des Prozesses am Donnerstag sprach Lemmer mit uns darüber, warum er trotz erster Pannen nun eine faire Verhandlung erwartet und wie er zu den Vorwürfen in seinem 2013 veröffentlichten Buch gekommen ist.
Herr Lemmer, Sie kritisieren in Ihrem Buch die Ermittler im Fall Peggy scharf. Freuen Sie sich nun darüber, dass der Prozess neu aufgerollt wird?
Lemmer: Ja, ich freue mich sehr und sehe das als Sieg der kritischen Öffentlichkeit. Ich und meine Mitautorin Ina Jung hatten im vergangenen Jahr gar nicht mit der Wiederaufnahme gerechnet - das passiert in Deutschland nämlich sehr selten. Doch da es starke Zweifel an dem Urteil von vor zehn Jahren gibt und mittlerweile auch neue Erkenntnisse aufgekommen sind, ist das definitiv der richtige Schritt.
Rechnen Sie mit einem Freispruch für den verurteilten Ulvi K.?
Lemmer: Ich kann mir nur einen Freispruch vorstellen. Es gibt bis heute keine Beweise für seine Schuld. Und sein Geständnis ist unter höchst fragwürdigen Bedingungen entstanden. Es spricht vieles dafür, dass die Ermittler ihm die Worte in den Mund gelegt haben. Schließlich hat Ulvi K. durch seine geistige Behinderung den Entwicklungsstand eines Acht- bis Zehnjährigen.
Vieles spricht für die Unschuld von Ulvi K.
Sie halten ihn also für unschuldig?
Lemmer: Dafür sprechen viele Anhaltspunkte. Mehrere Zeugen haben gesehen, dass Peggy noch nach dem angeblichen Tatzeitpunkt aus einer Bäckerei kam und in ein Auto gestiegen ist. In diesem Zeitfenster kommt Ulvi K. nicht mehr als Täter in Betracht. Außerdem landete das Geständnis von Ulvi K. erst einmal für einige Zeit in einer Schublade, bevor es angeführt wurde. Wenn es stichhaltig gewesen wäre, hätten die Ermittler ihn doch sofort als Täter präsentiert.
Aber Ulvi K. soll auch andere Kinder missbraucht haben.
Der Fall Peggy
07. Mai 2001: Die neunjährige Peggy aus dem oberfränkischen Lichtenberg wird letztmalig auf dem Heimweg von der Schule gesehen. Ihre alleinerziehende Mutter gibt noch am Abend eine Vermisstenanzeige auf. Wochenlange Suchaktionen - unter anderem mit Tornados der Bundeswehr - bleiben ohne Erfolg.
August 2001: Der geistig behinderte Gastwirtssohn Ulvi K. wird festgenommen. Er gesteht, sich an Peggy und drei weiteren Kindern sexuell vergangen zu haben.
22. Oktober 2002: Die Ermittler präsentieren den 24-jährigen Gastwirtsohn als mutmaßlichen Mörder der spurlos verschwundenen Schülerin.
28. Februar 2003: Die Staatsanwaltschaft Hof erhebt Anklage wegen Mordes.
07. Oktober 2003: Vor dem Landgericht Hof beginnt der Prozess. Nach fünf Verhandlungstagen platzt er wegen einer fehlerhafter Besetzung der Strafkammer.
11. November 2003: Das Verfahren beginnt erneut.
30. April 2004: Nach 26 Verhandlungstagen wird Ulvi K. wegen Mordes an Peggy zu lebenslanger Haft verurteilt.
17. September 2010: Ein wichtiger Belastungszeuge hat seine Aussage widerrufen und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden.
19. Juli 2012: Die Staatsanwaltschaft Bayreuth kündigt eigene Prüfungen an.
04. April 2013: Der Anwalt Michael Euler beantragt beim Landgericht Bayreuth die Wiederaufnahme des Falls.
22. April 2013: Die Polizei sucht wieder nach Peggys Leiche. Hinweise führen die Ermittler zu einem Anwesen mitten in Lichtenberg. Knochen in einer Sickergrube stammen aber nicht von Peggy-
21. November 2013: Ein Mann aus Halle in Sachsen-Anhalt ist ins Visier der Ermittler gerückt. Er war ein enger Freund von Peggys Familie und gilt für die Staatsanwaltschaft mittlerweile als Tatverdächtiger. Sein Elternhaus wird durchsucht.
09. Dezember 2013: Das Landgericht Bayreuth ordnet die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi K. an.
08. Januar 2014: Auf dem Friedhof Lichtenberg öffnen die Ermittler ein Grab - sie vermuten, dass im Zuge einer Beerdigung im Mai 2001 Peggys Leiche dort abgelegt worden sein könnte. Doch es gibt laut Staatsanwaltschaft keine Hinweise auf die sterblichen Überreste eines Kindes in dem Grab.
02. April 2014: Der im Fall Peggy zuständige Staatsanwalt wird auf eigenen Wunsch ausgewechselt. Er hatte einem neuen Verdächtigen bei einer Vernehmung den Anwalt verweigert.
10. April 2014: Prozessauftakt im Wiederaufnahmeverfahren gegen Ulvi K. vor dem Landgericht Bayreuth.
07. Mai 2014: Das Landgericht Bayreuth beendet die Beweisaufnahme aus Mangel an Beweisen nach nur sechs Verhandlungstagen vorzeitig.
14. Mai 2014: Ulvi K. wird freigesprochen.
Er hat den Geist eines Kindes und den Körper eines Erwachsenen - so ist es zu Situationen mit anderen Jungen gekommen wie: "Ich zeig dir meinen und du zeigst mir deinen." Beim Verfahren wurde das meiner Meinung nach falsch bewertet. Letztendlich gab es keinen Schuldspruch wegen Missbrauchs gegen ihn - nur die Vergewaltigung von Peggy steht ohne Beweise im Raum. Doch die Belästigung von Mädchen passt gar nicht in sein Muster.
Wenn nicht Ulvi K. der Täter ist - wer dann?
Lemmer: Ich kann auch nur Vermutungen äußern. Die vielversprechendste Spur ist für mich aber der Verdächtige Holger E., der mittlerweile wegen des Missbrauchs seiner zweijährigen Tochter im Gefängnis sitzt. Bei meinen jahrelangen Recherchen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Peggy vor ihrem Verschwinden Kontakt mit ihm hatte. Ob er wirklich der Täter ist, muss nun aber die Justiz in einem fairen Verfahren klären.
"Erwarte Gerechtigkeit vom neuen Prozess"
Was erwarten Sie von dem neuen Prozess?
Lemmer: Ich erwarte Gerechtigkeit - die gab es vor zehn Jahren nicht. Und ich hoffe, dass die Wahrheit nun endlich zweifelsfrei aufgeklärt wird.
Vor dem eigentlichen Beginn des Verfahrens gibt es schon die erste Panne. Der Staatsanwalt musste sein Mandat niederlegen. Ist das ein schlechtes Zeichen für den weiteren Verlauf?
Lemmer: Nein, das ist sogar ein sehr gutes Omen. Denn das zeigt, dass nun sehr genau auf den Ablauf des Verfahrens geachtet wird. Der Staatsanwalt hat ja den Fehler begangen, einem Verdächtigen den Verteidiger zu verweigern. Ich sehe nun auch beim Gericht den Wunsch, den Fall Peggy einwandfrei aufzuklären.
Kritik gibt es aber auch am Gutachter Hans-Ludwig Kröber.
Lemmer: Es gibt in der Tat scharfe Kritik an seinem Gutachten, in dem er das Geständnis von Ulvi K. als glaubwürdig beurteilt. Ich selbst bin kein Fachmann, aber einige Juristen werfen Kröber handwerkliche Mängel vor. Manche sprechen sogar davon, dass er sich nie richtig mit dem Fall befasst hat. Jetzt soll Kröber ein neues Gutachten anfertigen. Doch ich habe Informationen, dass der nun zuständige Richter Michael Eckstein mit ihm am Telefon besprochen hat, zu welchen Ergebnis dieses kommen soll - nämlich, dass das Geständnis frei erfunden gewesen sei.
Diesen Vorwürfen hat das Gericht mittlerweile widersprochen.
Lemmer: Ich halte weiterhin daran fest. Ich habe eine sehr zuverlässige Quelle, bei der ich mich noch einmal rückversichert habe.
Wenn das wirklich stimmt: Ist dann überhaupt ein faires Verfahren möglich?
Der Richter, der Gutachter und die Staatsanwaltschaft gehen jetzt geschwächt in das Verfahren. Sie sind sich bewusst, dass sie unter Beobachtung stehen und sich keine Fehler mehr leisten dürfen. In dieser Hinsicht ist es sogar positiv für das ganze Verfahren, dass sich diese Beteiligten jetzt erst einmal alle ins eigene Knie geschossen haben.
In ihrem Buch erheben Sie weitere Vorwürfe. Warum haben Sie sich überhaupt so intensiv mit dem Fall Peggy befasst?
Lemmer: Anfangs wollte ich nur eine Reportage für einen Radiosender machen, doch dann bin ich immer tiefer in dem Thema versunken. Vieles wollte ich anfangs nicht glauben. Zum Beispiel gab es neunjährige Jungen, die Ulvi K. sehr detailliert entlastet haben. Später zogen sie ihre Aussagen aber zurück. Ich habe bei ihnen nachgefragt, woran das lag. Daraufhin sagten mir die Neunjährigen, dass die Polizei sie dazu aufgefordert habe. Sie seien aus Angst darauf eingegangen.
Wand des Schweigens
Wie haben Sie für Ihr Buch recherchiert?
Lemmer: Zum einem habe ich versucht, mit den Behörden zu sprechen. Doch ich bin auf eine Wand des Schweigens gestoßen. Zum anderen konnte ich mit Peggys Angehörigen reden. Die waren anfangs eher zurückhaltend, später aber sehr offen.
Was haben Sie von den Angehörigen erfahren?
Lemmer: Nach den Gesprächen bin ich mir recht sicher, dass Peggy schon vor ihrem Verschwinden missbraucht wurde. Die Mutter spricht davon, dass sich das Mädchen in den Monaten davor auf einmal ungewöhnlich verhalten hat. Sie wurde schlecht in der Schule und hat sich immer weiter zurückgezogen. In der Woche vor dem 7. Mai 2001 hat das Mädchen das Haus wohl gar nicht mehr verlassen wollen. Jetzt macht sich die Mutter große Vorwürfe, die Zeichen nicht richtig gedeutet zu haben.
Auch 13 Jahre nach der Tat fehlt noch immer jede Spur von Peggy. Mittlerweile wurde auch ein Grundstück umgegraben und ein Grab geöffnet - ohne etwas zu finden. Ermittelte die Polizei falsch?
Lemmer: Das kann man so nicht sagen. Dass die Ermittler das Grundstück durchsucht und das Grab geöffnet haben, war wichtig. Andernfalls hätte es noch mehr Raum für Spekulationen gegeben.
Vermutungen, aber keine Beweise
Haben Sie nach Ihren Recherchen eine Vorstellung, was mit Peggy passiert sein könnte?
Lemmer: Ich habe Vermutungen, aber keine richtigen Beweise. Wie gesagt: Die heißeste Spur ist meiner Meinung diejenige, die zu Holger E. führt. Nun hoffe ich, dass es beim neuen Prozess weitere Erkenntnisse gibt.
Kurz vor der Wiederaufnahme am 10. April haben Sie und Ina Jung nun auch noch einmal ein aktuelles eBook mit 40 Seiten zu dem Fall herausgebracht. Warum?
Lemmer: Wir wollten noch einmal neue Erkenntnisse präsentieren und eine Öffentlichkeit schaffen. Wir wissen auch, dass sich Ermittler für unsere Informationen interessieren.
Es könnte aber auch so wirken, als wollten Sie Profit aus dem Fall Peggy schlagen.
Lemmer: Den Vorwurf habe ich noch nie gehört und er würde mich auch völlig kalt lassen. Wir haben viel Geld und Zeit in das Buch investiert. Es gab auch Ärger mit unseren Partnern, die unseren Einsatz für den Fall nicht mehr nachvollziehen konnten. Doch uns ist wichtig, dass es am Ende doch noch zu Gerechtigkeit kommt. Und ich bin optimistisch, dass das bei dem neuen Verfahren gelingt.