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Erbe: Der Fluch der alten Dame

Erbe

Der Fluch der alten Dame

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    Vor vier Jahren wurden Antonie und Josef Köttl aus München von der Nachricht überrascht, dass sie geerbt haben. Bis heute haben sie noch keinen Cent dieses Erbes gesehen.
    Vor vier Jahren wurden Antonie und Josef Köttl aus München von der Nachricht überrascht, dass sie geerbt haben. Bis heute haben sie noch keinen Cent dieses Erbes gesehen. Foto: Ulrich Wagner

    Es könnte der Stoff für ein modernes Märchen sein: Eine reiche alte Dame mit Villa in Pullach stirbt verwitwet und kinderlos. Nahe Angehörige sind nicht bekannt, deshalb werden eines Tages entfernte Verwandte mit dem Anruf überrascht: "Sie haben geerbt". Antonie Köttl, 79, erinnert sich noch gut, wie sich alle freuten. "Wir bekommen 40 000 Euro ", berichtete sie ihren drei erwachsenen Kindern - "10 000 für jeden". Es war ein schöner Tag im April, sie saßen unter dem Nussbaum in ihrem Garten im Münchner Stadtteil Untermenzing. Vier Jahre ist das jetzt her, das Glücksgefühl von damals ist schon lange verflogen. "Bekommen haben wir noch keinen Pfennig. Wir zahlen bloß", sagt Josef Köttl, 83. Mit einer Geste der Hilflosigkeit deutet er auf die Aktenordner vor sich auf dem Tisch. Neun Stück sind es inzwischen. Schon am Tag nach der ersten Besprechung im April 2011 in einer Münchner Anwaltskanzlei kommt eine zehn Seiten lange Gesprächsbestätigung. Viele weitere Schreiben folgen. Schreiben, die Aktenordner füllen und den vermeintlichen Geldsegen in einen Fluch verwandeln.

    Zehn Jahre zieht sich der Fall der alten Dame jetzt schon hin. Drei Anwaltskanzleien, zwei Erbenermittlungsfirmen, das Landgericht Augsburg, das Oberlandesgericht München, Ministerien, die Büros des Ministerpräsidenten, ja sogar des Bundespräsidenten sind oder waren mit der Sache befasst - und konnten nichts für die Erben tun. Fast alle warten noch auf ihr Geld. Stattdessen kommen im Laufe der Jahre Rechnungen: Das Finanzamt Nördlingen verlangte die Erbschaftssteuer, Einkommenssteuer für "Einkünfte" aus der Vermietung der Villa fällt an, obwohl die Erben vom Mietzins noch keinen Euro gesehen haben. Hinzu kommen Anwaltskosten, die Brandversicherung, ein Antrag auf Teilungsversteigerung. Josef Köttl hat Zahlen auf einem Zettel notiert. Sie summieren sich auf 6000 Euro. Anfangs geht alles ganz schnell. Nach dem Anruf, dass sie geerbt hätten, wird das Ehepaar mit dem Taxi zu der Kanzlei auf der Theresienhöhe gebracht. Einer von vielen Anwälten, mit denen sie noch zu tun haben würden und ein Herr, der sich als Erbenermittler vorstellt, erklären, dass es um den Nachlass einer Cousine von Antonie Köttls Mutter geht, um Margarete B., die in der Modebranche tätig gewesen war. Sie starb 2005 in einer Seniorenresidenz in Friedberg bei Augsburg im Alter von 89 Jahren.

    Da die alte Dame kein Testament hinterlassen hat, mussten die gesetzlichen Erben erst ermittelt werden - insgesamt 29 Verwandte dritten Grades, darunter Antonie Köttl. Was bei dem Gesprächstermin nicht zur Sprache kommt: Nach dem Tod von Margarete B. hatte das zuständige Amtsgericht Aichach einen Anwalt aus Friedberg als Nachlasspfleger bestellt, der wiederum eine Spezialfirma aus dem Badischen mit der Erbenermittlung beauftragte - bis die Sache fünf Jahre später auf wundersame Weise auf die Münchner Anwaltskanzlei übergeht. Ein lukrativer Fall: Der Nachlass umfasse Bankguthaben von knapp 800 000 Euro, bekommt Antonie Köttl gesagt, der Wert des Grundbesitzes in München-Pullach werde auf 560 000 Euro geschätzt, wobei der Verkauf jedoch einen weitaus höheren Preis erwarten lasse. Dass es darüber hinaus auch noch ein Auslandsvermögen in zweistelliger Millionenhöhe geben könnte, erfahren die Erben erst später. In solchen Dimensionen zu denken, sind die Köttls nicht gewohnt. Ihnen erscheint allein schon ihr anfänglich genannter Erbanteil von etwa 40 000 Euro wie ein Lottogewinn. Zumal ihnen - auch schriftlich - ausdrücklich versichert wird, "dass auf Sie keine Nachlassverbindlichkeiten zukommen, welche Sie aus ihrem derzeitigen Privatvermögen zahlen müssten." Bereitwillig unterschreibt Antonie Köttl daraufhin alles, was ihr die Herren in der Kanzlei vorlegen. Sie sei eine der Letzten, deren Unterschrift noch fehle, habe es geheißen. Jetzt sei innerhalb von vier bis sechs Wochen mit der Auszahlung zu rechnen. "Ich habe mich gedrängt gefühlt, habe aber gedacht, das gehört so", sagt Antonie Köttl pflichtschuldig. Doch statt der versprochenen Auszahlung innerhalb von Wochen vergehen Monate, in denen sich Stapel von Sachstandsmitteilungen anhäufen. 1. Juni 2011: "Der Teilerbscheinsantrag wird in den nächsten Tagen fertiggestellt ...". 2. August: "Das entsprechende Sie betreffende Teilerbscheinsverfahren leite ich noch in dieser Wochen ein". 30. August: "teile ich Ihnen als kurze Zwischennachricht mit, dass am heutigen Tage das Erbscheinsverfahren für Ihren Erbanteil eingeleitet wurde." 18. Oktober: " ...dass ich das Erbscheinsverfahren auch für Ihren Anteil eingeleitet habe.

    Ende Januar 2012 liegt der gemeinschaftliche Teilerbschein für Antonie Köttl und einige andere endlich vor. Als auch dann immer noch keine Auszahlung absehbar ist, kommt der Verdacht auf, so Antonie Köttl, "dass etwas nicht stimmt". Einige Erben, die sich bis dahin nicht gekannt hatten, nehmen Kontakt zueinander auf. Es stellt sich heraus, dass sechs von ihnen eine Anwältin im oberfränkischen Naila eingeschaltet haben. Auslöser ist offenbar ein Artikel im Spiegel von 1997. Der Nürnberger Hans Werner Mertel und sein Bruder Wolfgang aus Hof sind misstrauisch, als sie den Anruf aus München erhalten und googeln im Internet den Namen. Dabei stoßen sie unter der Überschrift "Betrogene Erben" auf einen Bericht über dubiose Immobiliengeschäfte und Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Leipzig wegen des Verdachts der Veruntreuung von Nachlässen. Der Einladung der Kanzlei in ein Bayreuther Vier-Sterne-Hotel folgen die Brüder nicht. Sie fordern stattdessen weitere schriftliche Informationen an. Cousinen, die den Termin wahrnahmen, hätten berichtet, erzählt Wolfgang Mertel, dass die Herren aus München aufgetreten seien "wie eine Drückerkolonne". Ähnliches erlebt eine Gruppe von oberpfälzischen Erben, die eilig in das Inselhotel in Regensburg bestellt wird. "Ich war baff", gesteht Peter Johann Ott, 65, der aus der Nähe von Regensburg stammt. Denn das sei eine Adresse, "wo man als Normalbürger nicht hinkommt". In Regensburg bekommen die Anwälte ihre Vollmachten, in Bayreuth hingegen unterschreibt nur eine Cousine. Sechs Zweifler warten ab, was die mit Wolfgang Mertel bekannte Anwältin dazu sagt. Deren Einschätzung bestärkt die Erben in ihrem Misstrauen: Die zehn Punkte umfassende Vollmacht zur gerichtlichen und außergerichtlichen Vertretung endet mit dem Zusatz: "jeweils unter Befreiung der Beschränkungen des §181 BGB". Diese Befreiung, so warnt die Anwältin, ermögliche dem Inhaber der Vollmacht so genannte Insichgeschäfte. Damit könnte der Vertreter auch Verträge mit sich selbst abschließen. Daraufhin erhält die Anwältin die Mandate der sechs Zweifler.

    Anfangs funktioniert die Verständigung zwischen den beiden Anwaltskanzleien noch leidlich. Als der Münchner Anwalt 2011 eine Erbin aus Augsburg auszahlen will, die mit 140 000 Euro einen der größten Anteile zu beanspruchen hatte, stimmt die Kollegin in Naila zu. Es habe geheißen, die Frau sei krank und auf das Geld angewiesen. Dass der Münchner Anwalt davon gleich 70 000 Euro einbehält - als Abschlag für sein Honorar, für Erbschaftssteuer und Auslagen, wie er auf Anfrage sagt -, bringt den ersten Sand ins Getriebe. Einige Zeit später will der Münchner mit seiner Vollmacht eine zweite große Auszahlung an eine weitere Gruppe seiner Mandanten vornehmen. Doch die Anwältin interveniert bei der Sparkasse in Augsburg, die der irrigen Annahme war, dass der Münchner alle Erben vertrete. Seitdem ist die Situation festgefahren. Als einige Mandanten dem Münchner Anwalt kündigen und die Anwältin in Naila bevollmächtigen, geht erst recht nichts mehr voran. Antonie Köttl wechselt im Oktober 2012. Dass eine einzelne Erbin ihr Geld bereits bekommen hat - ohne Rücksprache mit den übrigen Mandanten -, habe sie da erst erfahren. Auch, dass die vielen Mitteilungen, die sie eineinhalb Jahre lang erhalten hatte, vielleicht zur "Methode" gehört haben könnte, die Sache zu verzögern, habe sie erst da begriffen. Sie selbst, so die Anwältin, habe von ihren Mandanten bisher rund 30 000 Euro an Honorar erhalten. De facto arbeite sie ein bis zwei Tage pro Woche kostenlos für den Fall und habe deshalb mittlerweile zehntausend Euro Defizit gemacht. Auch der Münchner Anwalt macht Auslagen in ähnlicher Höhe geltend. Bei einem Einigungstermin in seiner Kanzlei vor einem Jahr eskaliert die Situation. Insgesamt sind etwa 20 Personen beider Parteien dabei, als es um zwei verschiedene Erbauseinandersetzungsverträge geht. Am Ende steht der Vorwurf der "Erpressung und Nötigung" im Raum, eine entsprechende Anzeige gegen den Münchner Anwalt wurde mittlerweile erstattet. "Hinweise" und Ermittlungen gibt es immer wieder, oft werden diese eingestellt, so auch in dem Fall in Leipzig 1997. Zwischen 2003 und 2007 verschickt das Oberlandesgericht München mehrere interne Schreiben an die Nachlassgerichte und teilt mit, dass es nach der Bestellung des Münchner Anwalts zum Nachlasspfleger beziehungsweise zum Betreuer zu "pflichtwidrigem Verhalten" gekommen sei. In dem unserer Redaktion vorliegenden Schreiben von 2007 weist es "aus gegebenem Anlass" darauf hin, dass dieser erneut "auffällig" geworden sei. In einem Schreiben des bayerischen Justizministeriums vom 8. April 2015 heißt es, "dass aufgrund neuerer Beschwerden ein berufsrechtliches Verfahren gegen ihn eingeleitet wurde." Zu einer strafrechtlichen Verurteilung kam es, so weit bekannt, bisher nie.

    Der Anwalt selbst sagt, das Ziel aller Anschuldigungen sei, Stimmung gegen ihn zu machen und Rufmord zu begehen. Außerdem habe die gegnerische Anwältin ihm die Mandanten abjagen wollen. Er wickle pro Jahr 100 bis 150 Nachlassverfahren problemlos ab. Nur dieser eine Fall laufe so schlecht. Bei den Mitarbeitern des Amtsgerichts Aichach, das ihn immer wieder als Nachlasspfleger einsetzt, sei dieser Nachlass als "Fall mit dem Schatz" Gesprächsthema gewesen - bezogen auf ein Gerücht über ein Auslandsvermögen. Auch, dass in der Sache seit Jahren nichts vorangehe. Antonie Köttl ist diese ganze Juristerei ebenso fremd wie die Welt der Reichen und Schönen, in der ihre Großcousine gelebt hatte. Als eine der wenigen Erben hat sie noch Kindheitserinnerungen an Margarete B.. Als kleines Mädchen sei sie einmal in der Schneiderei der "Tante" am Maximiliansplatz zu Besuch gewesen und habe einen Spiegel zerschlagen - "so einen großen Anprobierspiegel". Die mehrfache Großmutter lächelt gedankenverloren, während sie erzählt. Wie es passiert ist, weiß sie nicht mehr. Im Gedächtnis geblieben sind ihr aber die jungen Schneiderinnen in dem feinen Modeatelier: "Die waren alle so hübsch". Bis zum Kriegsende wurde der verwandtschaftliche Kontakt gepflegt, in den Nachkriegswirren verlor man sich aus den Augen. Ihre Eltern zogen später "aufs Land", in das Häuschen in Untermenzing, in dem sie bis heute mit ihrem Mann, einem pensionierten Eisenbahner, wohnt. Ihr Milieu ist ein anderes als das der fast vergessenen Tante. Einmal sei sie hinausgefahren nach Pullach in die Wettersteinstraße, um die Villa von außen anzuschauen. Für 1,3 Millionen Euro ist sie inzwischen verkauft - doch die Zustimmung der von dem Münchner Anwalt vertretenen Erben liegt noch nicht vor. Antonie Köttl weiß jetzt, dass es Margarete B. trotz ihres Wohlstands nicht vergönnt war, in der Villa ihren Lebensabend zu verbringen. "Sie wurde krank, kam nach Haar und es hieß, sie sei dement." Ein Gericht bestellte einen Betreuer - den Steuerberater der alten Dame. Er brachte sie ins Heim nach Friedberg - angeblich gegen ihren Willen. Dann seien einer Nachbarin zufolge Antiquitäten und Bilder aus der Villa weggeschafft worden. Gegen den Steuerberater haben Erben Anzeige erstattet wegen Verdachts der Untreue. Es geht um das Auslandsvermögen von Margarete B. - mehr als zehn Millionen Euro. Sie seien auf das Konto einer Stiftung überwiesen worden, bei der der ehemalige Betreuer als Direktor eingetragen sei. Der "Schatz" liegt demnach auf einem Konto in der Schweiz.

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