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Wallenfels: Das Haus der toten Babys

Wallenfels

Das Haus der toten Babys

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    Acht tote Babys wurden im Haus der Familie im oberfränkischen Wallenfels gefunden.
    Acht tote Babys wurden im Haus der Familie im oberfränkischen Wallenfels gefunden. Foto: Nicolas Armer, dpa

    Die Geburt bricht über sie herein, jedes Mal wieder. Im Stehen bringt sie das Kind zur Welt, in der Küche oder im Wohnzimmer. Genau weiß sie das nicht mehr. Ohne Arzt und ohne ihren Mann. Achtmal innerhalb von zehn Jahren fällt das Baby zu Boden, manchmal reißt die Nabelschnur von selbst ab. Und keines der Neugeborenen überlebt den Tag seiner Geburt.

    Andrea G. kann darüber nicht sprechen. Auch nicht von der Wut ihres Mannes, der keine Kinder mehr wollte. Sie hält die rechte Hand vors Gesicht, über Stunden tut sie das. Rechts von ihr sitzt ihr Noch-Ehemann Johann, davor alte Nachbarn aus Wallenfels. Niemand soll offenbar ihr Gesicht sehen – und auch nicht ihre Stimme hören.

    Die 45-Jährige lässt ihren Pflichtverteidiger Till Wagler für sich sprechen am ersten Tag, an dem das Landgericht Coburg gegen sie wegen Mordes in vier Fällen verhandelt. Ihr Mann Johann G., ein Metzgermeister, der heute Industriearbeiter ist, ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Er hat die Schildmütze tief ins Gesicht gezogen und sagt nichts – dabei geht es gerade darum, wie viel er wusste.

    Dessen Tochter aus erster Ehe findet im vergangenen November eine Kiste. Eine stinkende Kiste. Sie steht in dem Haus im oberfränkischen Wallenfels, in dem die 31-Jährige und ihr ein Jahr jüngerer Bruder mit ihrem Vater, dessen Frau Andrea und deren gemeinsamen Kindern leben. Die Tochter im Erdgeschoss, die anderen oben. Ihr Vater, sagt sie vor Gericht, hatte erwähnt, dass seine Frau ihm im Rausch von einer Geburt ein Jahr zuvor erzählt habe – und es am nächsten Tag zurückgenommen und auf den Alkohol geschoben habe.

    Die Mutter der acht toten Kinder aus Wallenfels in Oberfranken hat vor Gericht über ihren Anwalt ein Geständnis abgelegt.
    Die Mutter der acht toten Kinder aus Wallenfels in Oberfranken hat vor Gericht über ihren Anwalt ein Geständnis abgelegt. Foto: Dpa-infografik Gmbh

    Das hat ihr keine Ruhe gelassen, sagt die Tochter. Schließlich erzählten Kinder und Betrunkene die Wahrheit. Gemeinsam mit ihrem Bruder macht sie sich auf die Suche. Sie machen die Box auf – und wieder zu. Stellen sie weg. „Da war ein rotes Handtuch. Bisschen feucht“, sagt der 30-Jährige. „Man will so was ja nicht finden. Ich hab das erst mal verdrängt.“ Seine Schwester erzählt dem Vater schließlich von der Kiste. Als der nicht nachsieht, tut sie es, zwei Wochen später. „Ich habe ein blutiges Handtuch gesehen. Dann konnte ich nicht mehr weitermachen“, sagt sie. „Weil klar war, dass ich finde, was ich nicht finden wollte.“ Sie ruft die Polizei.

    Pflichtverteidiger Wagler: "Sie baute eine Fassade um sich auf"

    Insgesamt acht Babyleichen entdecken Ermittler schließlich in dem Haus. Andrea G., die Mutter der Säuglinge, ist da gerade mit ihrem neuen Partner in einer Pension im nahen Kronach. Ihr Pflichtverteidiger Wagler betont: „Meiner Mandantin fällt es schwer, darüber zu reden. Sie machte ihr Leben lang nur die Dinge mit sich aus und baute eine Fassade um sich auf.“

    Die Polizei hatte in dem Haus die sterblichen Überreste von acht Säuglingen gefunden.
    Die Polizei hatte in dem Haus die sterblichen Überreste von acht Säuglingen gefunden. Foto: Nicolas Armer dpa

    Anwältin Julia Gremmelmaier sagt zur Kindheit von Andrea G.: „Mit drei Jahren kam sie in den Kindergarten in Wallenfels. Nur an den Wochenenden war sie bei den Eltern. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu den Großeltern.“ Mit ihren Eltern hat sie kein gutes Auskommen, sie soll auch geschlagen worden sein. Kälte prägt die Beziehung zu Hause. Nach dem Hauptschulabschluss macht Andrea G. eine Ausbildung, mit 18 Jahren wird sie zum ersten Mal schwanger. Sie fängt trotzdem am Fließband bei Loewe zu arbeiten an. 2000 lernt sie Johann G., ihren späteren zweiten Mann, kennen – und wird schwanger. Die Ehe beschreibt sie als zerrüttet. „Ich wollte keine Kinder mehr“, bestätigt der 55-Jährige dem Richter. Er hat aus erster Ehe bereits Sohn und Tochter, seine Frau ebenfalls. Schon die ersten Zwillinge, die er 2001 mit ihr bekommt, als sie noch bei ihrem ersten Mann lebte, habe er eigentlich nicht mehr gewollt. Nach diesen beiden Mädchen zeugt das Paar allerdings noch ein Mädchen, das heute 14 Jahre alt ist.

    Mit Entsetzen im Gesicht verfolgen die Zuhörer, was Wagler dann erzählt. Nach der Geburt des Mädchens nämlich fängt die Mutter an, ihre Neugeborenen zu töten. Die Schwangerschaften habe sie jedes Mal verdrängt. So sehr, dass sie von den Geburten völlig überrascht gewesen ist, sagt ihr Anwalt. Ihre Mutter und auch ihr Mann drängen sie zu einer Sterilisation. Johann G. bringt sie sogar bis zur Klinik – doch Andrea G. geht nicht hinein, sondern versteckt sich in einer Pension.

    Ihr Mann verlangte eine Abtreibung

    Als sie 2003 wieder schwanger ist, habe sie sich gefreut. Und ihrem Mann davon erzählt. Der aber sei „ausgesprochen wütend“ geworden, habe eine Abtreibung verlangt. Sie sei entsetzt gewesen – und habe danach jeden Gedanken an die Schwangerschaft weggeschoben. Wie bei jeder der sieben folgenden Schwangerschaften auch. Nur manchmal sei das Bewusstsein aus ihr herausgebrochen, lässt sie ihren Anwalt sagen. Nach der dritten oder vierten Geburt habe sie ihrem Mann gesagt, es seien tote Kinder im Haus. Bei der letzten Schwangerschaft habe sie ihn gefragt, was sie tun soll. „Er lachte nur hämisch.“

    „Ein Teil der Kinder war still, ein Teil der Kinder hat Lebenszeichen gegeben“, sagt Wagler. Die 45-Jährige wisse nicht mehr genau, wie viele Säuglinge nach der Geburt gelebt hätten. Ob lebend oder tot geboren – Andrea G. soll jedes der Babys in Handtücher gewickelt haben. Immer etwas enger. Wenn ein Kind noch Lebenszeichen von sich gibt, drückt sie das Handtuch länger auf Mund und Nase. Bei wie vielen Babys sie das gemacht hat, wisse sie nicht mehr. „Es können zwei, drei oder auch vier gewesen sein“, sagt Verteidiger Wagler. Das letzte Kind jedenfalls hat nicht geschrien.

    Danach räumt Andrea G. die toten Säuglinge weg, stopft sie in Plastiksäcke und legt sie in der stillgelegten Sauna ab. Die Staatsanwaltschaft wirft der Mutter vor, mindestens vier der Babys vorsätzlich umgebracht zu haben. Von diesen weiß man, dass sie gelebt haben. Bei drei der Säuglinge war wegen der Verwesung keine Obduktion mehr möglich. Der Vater hat nach Ansicht der Anklagebehörde gewusst, dass seine Frau andauernd schwanger war – und damit gerechnet, dass seine Frau die Kinder umbringen würde. Er nimmt das billigend in Kauf und hält sie nicht davon ab. Wegen seiner Untätigkeit macht Andrea G. weiter, ist Oberstaatsanwalt Martin Dippold überzeugt.

    Oberstaatsanwalt Dippold: "Sexueller Egoismus, Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit"

    Warum hat das Ehepaar nie verhütet? Die Angeklagten hätten ohne Einschränkung durch weitere Kinder leben wollen. Dippold sieht bei Andrea und Johann G. „sexuellen Egoismus, Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit“ – und damit niedere Beweggründe. Der Vater der Kinder schweigt zu den Vorwürfen. Anscheinend gleichgültig hört er dem Staatsanwalt zu. Er sagt über seine Noch-Ehefrau: Gespräche über Probleme habe sie immer abgeblockt. Und bezichtigt sie, eine notorische Lügnerin zu sein. Über Geld habe sie gelogen, um ihren Kaufrausch zu befriedigen, und über ihre Sterilisation.

    Andrea G. sitzt weiter still da, stützt den Kopf gegen alle fünf Finger ihrer Hand. „Sie ist extrem verschlossen“, sagt ihr Anwalt, „selbst ihre beste Freundin wusste nur Bruchstücke dessen, was sie beschäftigt.“ Bei Säuglingsmorden handle es sich oft um Frauen, die Probleme nicht nach außen tragen und entsprechende Lösungsstrategien entwickeln könnten. „Und das war aus meiner Sicht bei ihr auch so. Meine Mandantin ist kein Monster.“ Während der Geburten sei sie weggetreten gewesen. Wie unter Drogen – oder als sähe sie sich selber in einem Film. mit dpa, afp

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