Der Schock sitzt tief. Am Tag nach den tödlichen Schüssen auf einen Staatsanwalt im Amtsgericht Dachau sind die Verantwortlichen der bayerischen Justiz erschüttert. "Es ist ein unglaublicher Vorgang, der sich hier ereignet hat", sagt Generalstaatsanwalt Christoph Strötz. Der Erschossene war erst 31 Jahre alt, ein Prädikatsjurist mit Aussicht auf eine glänzende Karriere. Und der Täter?
Er scheint die Justiz für seine Probleme verantwortlich zu machen. Selbst Befürworter schärferer Sicherheitsmaßnahmen in Gerichten gehen aber davon aus, dass die unfassbare Tat nicht zu verhindern war.
Rudolf U. schweigt am Tag nach seiner Festnahme. Er war noch im Gerichtssaal festgenommen worden. Dort hatte er zunächst auf den Richter gezielt, der ihn wegen des Vorenthaltens von 44.000 Euro an Sozialbeiträgen zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt hatte. Nachdem er diesen verfehlt hatte, traf der 54-Jährige den Staatsanwalt tödlich. Am Donnerstag sollte dem Mann deshalb wegen Mordes und versuchten Mordes der Haftbefehl eröffnet werden.
Dachau: Der Schütze war verbittert
Ob U. noch weiter geschossen hätte, wenn er nicht überwältigt worden wäre, konnten die Ermittler zunächst nicht sagen. Hinweise auf einen womöglich verhinderten Amoklauf gebe es bisher aber nicht, sagt Andrea Titz, Sprecherin der Staatsanwaltschaft München II. Zwei Zollbeamte, die als Zeugen im Gericht waren, hatten den offenbar wegen seiner Insolvenz und gesundheitlichen Beeinträchtigungen nach einem Schlaganfall verbitterten Unternehmer überwältigt .
Doch obwohl U. die Aussage verweigert, ist sich die Staatsanwaltschaft sicher, dass die Schüsse geplant waren. Titz sagt, dass U. die Pistole mit ins Gericht gebracht habe, lasse den Rückschluss zu, dass er sie in der Absicht zu schießen dabei hatte. Schon im Gerichtssaal verhielt sich U. auffällig. Er stritt sich lautstark mit seiner eigenen Verteidigerin - doch auch darin sah niemand einen Anlass, den Mann zu durchsuchen.
Der Angeklagte brachte seine Waffe problemlos ins Gericht
Tödliche Anschläge bei Gericht
Die Sicherheitsvorkehrungen in Gerichten können blutige Angriffe nicht immer verhindern. Eine Auswahl spektakulärer Fälle:
Juli 2009: Während einer Verhandlung am Dresdner Landgericht ersticht der Angeklagte eine als Zeugin geladene Ägypterin. Der Russland-Deutsche tötet die Frau aus Fremdenhass und muss lebenslang in Haft.
April 2009: Im Landshuter Landgericht erschießt ein Mann seine Schwägerin und nimmt sich danach das Leben. Zwei weitere Menschen werden bei der Schießerei vor einem Sitzungssaal verletzt.
Mai 1998: Ein 69-Jähriger erschießt aus Rache und Hass auf die Justiz einen 52 Jahre alten Amtsrichter in dessen Dienstzimmer in Essen. Dann tötet er sich selbst.
Februar 1998: Ein Angeklagter schießt im Gerichtssaal in Aurich (Niedersachsen) einen Staatsanwalt an und erschießt sich selbst.
März 1997: Ein 39-jähriger Polizist erschießt in einem Amtsgericht in Frankfurt/Main seine Ex-Lebensgefährtin und verletzt deren Anwältin schwer.
Januar 1995: Ein 54-Jähriger schneidet einer Richterin im Kieler Amtsgericht die Kehle durch. Er hatte irrtümlich angenommen, sie sei für seine Sorgerechtsangelegenheit zuständig.
März 1994: Im Gericht in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen) zündet ein 39-Jähriger einen Sprengsatz, da seine Ex-Freundin ihn wegen Körperverletzung verklagt hatte. Bilanz: sieben Tote, darunter die Frau, der Richter und der Täter selbst.
März 1981: In Lübeck tötet eine 30 Jahre alte Gastwirtin während einer Verhandlung im Landgericht den mutmaßlichen Mörder ihrer siebenjährigen Tochter.
Der in mehreren Medien als auffällig aggressiv beschriebene Mann konnte seine Waffe problemlos in das Gericht mitbringen. Im benachbarten München, wo im Justizzentrum stets schärfste Sicherheitsvorkehrungen gelten, hätte er das nicht geschafft. Doch spricht das für ein Versagen der Justizbehörden?
Im Freistaat gibt es 215 Justizgebäude. Doch nur in München, Augsburg, Nürnberg und Würzburg gehört das Durchleuchten wie an Flughäfen zum Sicherheitsstandard. Und das, obwohl es schon 2009 einen blutigen Zwischenfall in einem bayerischen Gericht gegeben hatte. Damals hatte ein Mann in Landshut nach einem Erbstreit seine Schwägerin und dann sich selbst erschossen.
Gericht: Es wird nur im Einzelfall scharf kontrolliert
Bayerns Justizministerin Beate Merk (CSU) verabschiedete anschließend ein Sicherheitskonzept. Doch auch danach wird an fast allen Gerichten nur im Einzelfall besonders scharf kontrolliert - in "kleinen" Verfahren wie dem Dachauer nicht. Gerichte könnten nicht zu einer "Trutzburg" ausgebaut werden, weil sonst der Zugang der Öffentlichkeit nicht gesichert sei, sagt Merk.
Sicherheitsmaßnahmen in deutschen Gerichtssälen
In deutschen Gerichten gibt es keine einheitlichen Sicherheitsstandards.
Bei Zivilverfahren in Amts- oder Landgerichten wird in der Regel nur sporadisch kontrolliert.
Die Überprüfungen beim Zugang zu Strafjustizgebäuden ähneln dagegen oft den Kontrollen in Flughäfen.
Sitzen mutmaßliche Täter der Organisierten Kriminalität auf der Anklagebank oder wird Terroristen der Prozess gemacht, ist die Durchsuchung der Besucher nach Waffen die Regel.
Bauliche Schutzmaßnahmen im Gericht reichen von räumlich getrennten Sitzungstrakten bis zu Sicherheitsschleusen mit Metalldetektoren am Eingang.
Neben Taschen- und Gepäckkontrollen sollen auch Notrufsysteme im Verhandlungssaal oder die «Aufrüstung» von Justizwachtmeistern - etwa mit Pfefferspray - für mehr Sicherheit sorgen.
Oft überlassen die zuständigen Bundesländer die Entscheidung den Gerichtspräsidenten.
Diese prüfen dann im Einzelfall, ob die Sicherheit der Prozessteilnehmer gefährdet sein könnte und wann sie an den Eingängen ihrer Häuser Metalldetektoren einsetzen oder Menschen und Taschen kontrollieren lassen.
Für die Sicherheit im Verhandlungssaal ist dann der Richter zuständig. Liegen Drohungen vor, kann dieser auch vor seinem Saal Personenkontrollen anordnen.
Statt auf die subjektive Einschätzung der Gefährdung durch Richter zu vertrauen, gibt es in immer mehr Städten ständige Kontrollen am Eingang.
Das soll Schutz für das ganze Gebäude bieten, unabhängig von den Fällen, die dort gerade verhandelt werden.
Sicherheitsschleusen gelten zwar als wirksame Abschreckung, stehen aber im Widerspruch zum Selbstverständnis der Justiz, die ihre Legitimation zu großen Teilen aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit herleitet.
Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Deutschen Justizgewerkschaft, Siegfried Rauhöft, kritisiert dagegen die Sicherheitsstandards in den deutschen Gerichten. Solch ein Fall wie in Dachau sei zwar nicht alltäglich - "aber schon fast alljährlich". Immer wieder komme es zu Gewalt in Gerichten, klagt Rauhöft. Er appelliert deshalb bundesweit an die zuständigen Minister, zumindest die Justizbeamten in den Gerichten besser auszubilden, damit diese ein besseres Auge für möglicherweise gefährliche Täter entwickeln.
Rauhöft sieht allerdings trotz seiner Kritik keine Möglichkeit, sowohl vom Personalaufwand als auch von der Technik her an allen Gerichten in Deutschland Sicherheitsschleusen einzuführen. "Es liegt am Geld." Deshalb zieht er für die Tat des Einzelgängers Rudolf U. ein bitteres Fazit. "Das wäre wahrscheinlich nicht zu verhindern gewesen." AZ, afp