Für Menschen wie Melanie Stabel sind moderne Kommunikationswege ein Segen. Kurznachrichtendienste und soziale Netzwerke ermöglichen, sich ohne Ton miteinander auszutauschen. Stabel ist seit ihrer Geburt hochgradig schwerhörig. In beiden Ohren trägt sie Hörgeräte, die ihr helfen, das menschliche Gehör aber nie ersetzen können. Mitunter hat die 17-Jährige Probleme, sich im Alltag zurechtzufinden. Etwa in überfüllten, schallenden Räumen, in Restaurants oder Turnhallen. „Leider kann man nicht bei jedem Mitmenschen mit Verständnis und Rücksicht rechnen“, schreibt sie im Chat.
Telefonate führen, das gestaltet sich schwierig. Einen Arzttermin absprechen oder einen Notruf absetzen – was für andere Menschen selbstverständlich ist, stellt Stabel vor Herausforderungen. Indes ist sie weit davon entfernt, zu jammern oder sich zu beschweren. Trotz ihres Handicaps führt sie weitestgehend ein normales Leben. Sie komme zurecht, berichtet sie. Ausgrenzung hat sie nie erfahren, im Kindergarten und in der Schule umgaben und umgeben sie Hörende, in zwei Jahren will sie an einer Regelschule ihr Abitur machen.
Die Schule rückt dieser Tage allerdings weit in den Hintergrund, Stabel erlebt aufregende Tage. In der Türkei strebt sie nach Gold, Silber und Bronze, bei den Deaflympics, den Olympischen Spielen der Gehörlosen, gehört sie dem deutschen Team an. Heute Abend wird das Internationale Olympische Komitee (IOC) die Weltspiele in Samsun eröffnen, am Donnerstag steigt Stabel ins Wettkampfgeschehen ein.
Ihre Vorfreude ist riesig. „Ich habe noch nie an einem so großen, internationalen Wettkampf teilgenommen“, erklärt sie. Möglichst viele Eindrücke will sie aufsaugen, will den Geist der Spiele spüren, will mit Athleten anderer Nationen Kontakt aufnehmen und Erfahrungen austauschen. Schade finde sie daher, dass sie mit der deutschen Mannschaft in einem Hotel außerhalb des Olympischen Dorfs untergebracht ist. Während Teilnehmer Olympischer Spiele öffentlichkeitswirksam eingekleidet werden, erhielten Stabel und Co. lediglich ein einheitliches T-Shirt und eine Hose. Zudem mussten sie 500 Euro selbst zur Reise beisteuern.
Stabels Freude trübt das nicht. Am Samstag hat ihr Abenteuer mit dem Flug in die Großstadt am Schwarzen Meer begonnen. Mit im Gepäck: Stabels Sportwaffen. Die junge Frau ist leidenschaftliche Schützin. Mit zehn Jahren hat sie begonnen, sich intensiv mit dem Präzisionssport zu beschäftigen.
Ungewohnt für sie ist hingegen, dass sie an speziellen Gehörlosenwettbewerben teilnimmt. Erst Anfang dieses Jahres erfuhr Stabel vom Deutschen Gehörlosen Sportverband, im April schloss sie sich dem GSV Augsburg an, da es in ihrer Region keinen Gehörlosen-Verein gibt. Stabel lebt weiterhin im württembergischen Neuweiler (Kreis Calw), startet allerdings bei den Gehörlosen für Augsburg. Bundestrainer Manfred Zisselsberger hat Stabel den Augsburger Verein empfohlen. Zisselsberger ist in Samsun mit dabei, hat sich dafür in Gebärdensprache schulen lassen.
Spät, aber sogleich erfolgreich begann Stabel ihre Karriere im Handicap-Sport. Dort sind keinerlei Hilfsmittel erlaubt, ihre Hörgeräte muss sie ablegen. Bei ihren ersten deutschen Meisterschaften im Mai gewann Stabel drei Titel und stellte mit 588 Ringen im Luftgewehr einen deutschen Rekord auf. Bis dahin hat Stabel nur mit Hörenden konkurriert. Sie geht für Vereine in Neuweiler, Königsbach und Fenken an die Stände, trainiert oft im Landesleistungszentrum Baden-Württemberg in Pforzheim und gehört dem Bundeskader an. Zwei- bis dreimal pro Woche steht Stabel am Schießstand, zusätzlich geht sie laufen, schwimmen oder absolviert mit ihrem 20-jährigen Bruder Gregor, selbst erfolgreicher Schütze, ein Fitnesstraining. Ob sich die Mühen gelohnt haben, wird Stabel in Samsun erfahren. Ihre Erfolgsaussichten im Dreistellungskampf, im Kleinkaliber liegend und im Luftgewehr kann sie nur schwer einschätzen.
Stabel profitiert davon, in ihrem Sport nicht auf akustische Signale angewiesen zu sein. Geräusche stören die Konzentration, sogar gesunde Sportler tragen Gehörschutz. Stabel erklärt, ihr Gleichgewichtssinn sei kaum beeinträchtigt, das Defizit lasse sich durch Training und Balanceübungen ausgleichen. „Mit ein paar Jahren Erfahrung fällt die Beeinträchtigung gering aus.“ Stabel selbst ist der beste Beweis dafür.