Ludwig Müller hat vergangenes Wochenende schlecht geschlafen. Was dem 83-Jährigen im heimischen Bergshausen bei Kassel die Nachtruhe geraubt hat, war ein Ereignis im 380 Kilometer entfernten München. Genauer, in der dortigen Allianz-Arena, wo am Samstag der FC Augsburg wegen einer Fehlentscheidung des Schiedsrichter-Assistenten 1:2 gegen den FC Bayern verloren hat. Ludwig Müller mochte sich auch Mitte der Woche noch nicht über das vermeintliche Foulspiel, das zum Elfmeter für den Rekordmeister geführt hatte, beruhigen. „Das war die größte Fehlentscheidung, die ich je im Sport gesehen habe“, schimpfte Müller, der behaupten kann, im Sport schon viel gesehen zu haben. Aber wenn etwas zum Nachteil Augsburgs geschieht, gibt es für ihn kein Halten mehr.
Dabei ist Ludwig Müller weder in Augsburg geboren noch hat er je hier gelebt. Aber er hat die Sportgeschichte der Stadt geprägt – und diese wiederum Müllers Leben. Dafür genügten zwei Tage im September 1958. Am 20. und 21. September fand im Rosenaustadion einer jener damals populären Leichtathletik-Länderkämpfe statt. Gegner war die übermächtige UdSSR. 85000 Zuschauer strömten an den beiden Tagen in die Arena – bis heute Rekordbesuch. Die deutschen Athleten siegten überraschend mit 115:105 Punkten. Großen Anteil daran hatte Ludwig Müller, der die Rennen über 5000 und 10000 m gewann. „Die Augsburger haben so getobt, da konnte man gar nicht langsam laufen“, erinnert er sich noch lebhaft an die beiden Rennen, die ihm das Prädikat „Held von Augsburg“ verschafften. Es ist ihm bis heute geblieben. „Überall, wo ich hinkomme, werde ich auf Augsburg angesprochen“, erzählt Müller. Im 5000-m-Rennen am Samstag waren die Russen Shukow und Artenjuk favorisiert gewesen. „Mir wurde gesagt, da hast du eh keine Chance. Aber dreihundert Meter vor dem Ziel zog ich den Spurt an. Da hatte keiner damit gerechnet.“ Kurios sind die Umstände seines Sieges über die 10000 m am Sonntag. Eigentlich sollte Herbert Schade, damals der große Mann im Läuferteam, als zweiter Deutscher neben Xaver Höger antreten. Doch Schade schlug vor, dass Müller an seiner Stelle laufen sollte. Das Problem: Müller war nur noch als Zuschauer ins Stadion gekommen. „Schuhe habe ich mir vom 800-m-Läufer Paul Schmidt geliehen und eine Hose von Herbert Schade.“ Die Hose war zu groß, die Schuhe zu klein. Nach dem Rennen bluteten Müllers Füße. Gewonnen hatte er dennoch. Müller: „Die Menschen haben von der ersten Runde an meinen Namen gerufen. Die Augsburger haben mich ins Ziel geschrien.“ Der sportliche Erfolg hat ihn dann auch im Leben befördert. „Da gingen für mich viele Fenster auf“, sagt der in Wesel am Niederrhein geborene Läufer, „von da an ging es mir richtig gut.“
Zum Laufen war Müller über den Fußball gekommen – wenn auch nicht ganz freiwillig. Es habe da diesen Schiedsrichter gegeben, der fälschlicherweise ein Handspiel gegen ihn pfiff („Ich hab den Ball mit der Brust gestoppt“). Dem Streit darüber folgte eine Handgreiflichkeit. Müller wurde für ein Jahr gesperrt. Der gelernte Maurer begann zu laufen. „Am Morgen von fünf bis sieben und am Abend von fünf bis sieben.“ Und dazwischen? Hat der gelernte Maurer auf dem Bau als Maurer gearbeitet. Später sattelte er um, zog nach Hessen, in die Nähe von Kassel, arbeitete im Tiefbauamt, wurde Masseur, betreute unter anderem die Fußballer von Hessen Kassel, zwischendurch auch als Konditionstrainer. Und ja, als Tenniscoach war er auch aktiv. Inzwischen zwickt die Hüfte. Trotzdem steht er noch regelmäßig an der Massagebank („Ich hab Kunden, die kommen schon seit 50 Jahren zu mir“).
Am Samstag, zur Eröffnung der neuen Leichtathletik-Anlagen im Rosenaustadion (14 Uhr), kehrt er mit seiner Enkelin an die Stätte seiner großen Triumphe zurück. Müller wurde fünfmal deutscher Meister und bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom Sechster über 3000 m Hindernis. Müller freut sich auf den Besuch: „Die Siege von Augsburg sind mir genau so viel wert wie Olympiagold oder ein Weltrekord.“