Das Jahrhundertprojekt endet momentan in einer Sackgasse. 18 Meter unter dem Vorplatz des Augsburger Hauptbahnhofs steht man vor einer Wand, wenn man Augsburgs größte und anspruchsvollste Baustelle besichtigt – einen Straßenbahntunnel samt unterirdischer Haltestelle direkt unter den Bahnsteigen der Deutschen Bahn. Ungefähr 400 Meter Wegstrecke sind es bis zur anderen Seite des Tunnels. Vielmehr: 400 Meter sollen es einmal sein.
Acht weitere Jahre Bau sind geplant
Seit zwei Jahren wird gebaut. Acht weitere Jahre sind dafür veranschlagt. Was zeigt, dass es schwierige 400 Meter sind. Das historische Bahnhofsgebäude muss unterquert werden, dann der Personenbahnhof und der Güterbahnhof – insgesamt um die 40 Bahngleise, und das bei laufendem Betrieb. Man baue an Augsburgs Zukunft, sagte ein stolzer Oberbürgermeister Kurt Gribl (CSU) 2012, als es richtig losging.
Eine teure Zukunft. Knapp zehn Jahre zuvor war man von 70 Millionen Euro Kosten ausgegangen. Damals beschloss der Stadtrat nach langem Ringen die große Lösung mit neuem Tunnel und verwarf andere, günstigere Ideen. Die Augsburger wollten keine halben Sachen, sondern eine großstädtische Lösung.
Anfänglich eingeplante Kosten sind längst überschritten
2012, als die ersten Bagger anrollten, war dann von 116 Millionen Euro Baukosten die Rede. Inzwischen ist die Kostenschätzung bei 143 Millionen Euro angelangt – zuzüglich weiterer knapp 40 Millionen an internen Kosten, Risikopuffer und Ablösen an die Bahn. Macht nach momentanem Stand 181 Millionen Euro. Auf eine Bauzeit von zehn Jahren umgelegt heißt das, dass jede Woche um die 350 000 Euro verbaut werden. Und statt 2019 ist jetzt 2022 als Fertigstellungsdatum im Spiel. Wie es aussieht, baut man nicht nur an Augsburgs Zukunft, sondern weit in Augsburgs Zukunft hinein. Weitere Kostensteigerungen schließen Stadt und Stadtwerke nicht aus. Allein die jährlichen Baupreissteigerungen lagen zuletzt bei bis zu drei Prozent.
Nun fragen sich viele, wie es so weit kommen konnte. Als im Stadtrat jüngst ein Bericht vorgelegt wurde, war die Begeisterung bei einigen Stadträten deutlich abgekühlt. Es gab Stimmen, die fragten, ob man das Projekt nicht stoppen soll. Zu den profiliertesten Gegnern gehört der Präsident des Bundes der Steuerzahler in Bayern, Rolf Baron von Hohenhau. Der Augsburger Stadtrat und Parteifreund von Gribl spricht in Anlehnung an „Stuttgart 21“ schon von „Augsburg 22“.
Der Hauptbahnhof ist miserabel ausgestattet
Mehrfach hat er den Bahnhofstunnel in das Schwarzbuch des Steuerzahlerbundes aufgenommen. Kommendes Jahr werde es wohl wieder so sein, kündigt von Hohenhau an. Durch die jüngsten Kostensteigerungen sieht er sich bestätigt und spricht von „horrender Steuergeldverschwendung“. Er fordert zumindest ein Moratorium, um darüber nachzudenken, wie es weitergehen soll. Augsburg brauche einen leistungsfähigen Bahnhof, aber nicht in der geplanten Form.
Doch von Stuttgart 21 ist man in Augsburg ein Stück weit entfernt. Kostensteigerungen stehen auch hier fest, aber statt großer Demonstrationen gab es in Augsburg ein Bürgerbegehren gegen den Bahnhofstunnel, das – für manche überraschend – die nötige Zahl von rund 10 000 Unterschriften relativ schnell knackte. Wie die Mehrheit der Augsburger über den Bahnhofsumbau denkt, weiß man nicht, weil es aus rechtlichen Gründen zu keinem Bürgerentscheid kam.
Doch wenn man sich bei Fahrgästen umhört, klagen alle über die miserable Ausstattung des Hauptbahnhofs. Mütter mit Kinderwagen und Rollstuhlfahrer werden nach Voranmeldung durch einen finsteren Tunnel gelotst, durch den früher die Elektromobile der Post die Briefe zu den Postwaggons brachten. Wer Gepäck hat, muss es die Treppen hinauf- und hinunterschleppen. Rolltreppen und Fahrstühle – seit Jahren Fehlanzeige. Manche Kreisstadt hat einen komfortableren Bahnanschluss als die Großstadt Augsburg.
Kostensteigerungen bei solchen Bauprojekten seien nicht ungewöhnlich
Darum hält eine breite politische Mehrheit an dem Projekt fest. Der Tenor der Regierungsfraktionen lautet: Dass es teurer wird, ist nicht erfreulich, aber das Projekt sei wichtig für Augsburgs Zukunft. Man könne ja, sagt ein Augsburger Stadtrat, zum Bahnhofstunnel unterschiedlicher Meinung sein. Nun, da die Stadtwerke bereits 25 Millionen Euro verbaut haben, gebe es aber nur noch eine Lösung: „Weitermachen. Aufhören kann man jetzt nicht mehr.“
„Es gibt keine Planung, die von Anfang an alles berücksichtigt“, sagt OB Gribl zur Kostensteigerung. Von einer Fehlplanung will er ohnehin nicht sprechen. Es sei – anders als am Berliner Flughafen – nichts gebaut worden, was sich als Fehler herausstellte. Damit hat Gribl recht, ebenso wie mit dem Argument, dass Kostensteigerungen bei derartigen Bauprojekten nichts Ungewöhnliches seien. Doch ob Letzteres eine befriedigende Erklärung ist?
Augsburg steht mit seiner Kostensteigerung in der Tat nicht alleine da. Den Königsplatz als Tram-Umsteigeknoten brachten die Stadtwerke sogar leicht unter dem Kostenvoranschlag hin. Doch dafür wird es beim Bahnhof umso teurer.
Nach wissenschaftlichen Studien ist der Tiefbau besonders anfällig für Kostensteigerungen. In Deutschland gilt Professor Werner Rothengatter als einer der profiliertesten Fachleute auf dem Gebiet der Baukostensicherheit. Der emeritierte Karlsruher Ökonom ist ein viel gefragter Gesprächspartner nach den Desastern mit dem Berliner Flughafen, Stuttgart 21 und der Hamburger Elbphilharmonie. Mitunter, sagt er in Interviews, werde bei Infrastrukturprojekten am einen Ende gebaut, bevor am anderen alle Genehmigungen vorliegen. Auch dass bei öffentlichen Projekten mit niedrigen – weil veralteten – Kostenschätzungen in Gremien gegangen werde, sei nicht unüblich.
Bauprojekte durchschnittlich 28 Prozent teurer als zuerst vermutet
Eine internationale Untersuchung von Megaprojekten des in Oxford lehrenden dänischen Ökonomen Bent Flyvbjerg kam zum Ergebnis, dass fast jedes öffentliche Verkehrsprojekt teurer wird als geplant. Seine empirische Untersuchung aus dem Jahr 2002 gilt auch heute als einschlägig. Im Durchschnitt liegt man 28 Prozent über der ersten Prognose. Speziell im Eisenbahnbau wird es schnell teurer. Neben dem langen Vorlauf bei öffentlichen Projekten – verbunden mit jährlichen Baukostensteigerungen – sind Fehler in der Planung, kurzfristige Änderungen und Erweiterungen des Projekts oben auf der Ursachenliste.
Stadt und Stadtwerke Augsburg weisen den von Stadträten erhobenen Eindruck zurück, mit den Kosten nicht transparent umzugehen. „Wir haben schnellstmöglich informiert“, sagt Stadtwerke-Chef Walter Casazza, der seit Anfang des Jahres in Augsburg ist. Er ließ nach seinem Start die bisherigen Zahlen durchrechnen. Zuvor war Casazza acht Jahre lang in Karlsruhe – und hat Erfahrung mitgebracht. Dort wird die Innenstadt mit Tunnels für Bahnen und Autos umgeackert.
Bahn und Stadtwerke teilen sich die Mehrkosten
Die Verantwortlichen verweisen darauf, dass es zuletzt Schwierigkeiten mit dem beauftragten Ingenieurbüro gegeben habe. Das Unternehmen, das mit mehr als 1000 Mitarbeitern weltweit tätig ist und als eines der renommiertesten der Branche gilt, habe die Planungskosten zu niedrig angesetzt. Die Firma selbst weist das zurück, äußert sich aber mit Verweis auf eine Schweigeklausel in den Verträgen nicht weiter. Inzwischen wurde dem Büro gekündigt. Zudem gab es Probleme mit der Deutschen Bahn als Projektpartner, die mit ihren Arbeiten nicht recht vorankam und sich als hartleibiger Verhandlungspartner erwies.
Ein Großteil des Bahnhofstunnels in Augsburg wird von Bund und Land gefördert. Genau sind es 83 Prozent der förderfähigen Kosten. Auch ein Teil der Mehrkosten lässt sich wohl über Fördermittel auffangen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sich die Aufregung in Grenzen hält. Was der allgemeine Steuerzahler bezahlt, muss die Stadt, die ohnehin nur marginal beteiligt ist, nicht bei Schulen oder anderen Projekten sparen. Im Wesentlichen werden sich Bahn und Stadtwerke die Mehrkosten teilen.
Es soll künftig trocken und barrierefrei zwischen Zug und Tram gewechselt werden
In acht Jahren soll der Bahnhof dann fit für die Zukunft sein. Augsburg hat in den vergangenen Jahren vom Freistaat deutlich mehr Züge ins Umland und nach München bewilligt bekommen. Wenn die Bezirkshauptstadt für Einwohner und Wirtschaft attraktiv sein wolle, müsse sie gute Verkehrsanbindungen haben, sagt Oberbürgermeister Gribl. Die Zahl der München-Pendler beispielsweise steigt seit Jahren.
Mit dem neuen Bahnhof sollen Züge und Straßenbahnen so verknüpft werden, dass man trockenen Fußes und barrierefrei wechseln kann. 24 000 Fahrgäste nutzen die Stadtwerke-Haltestelle am Hauptbahnhof an einem Schultag – der Großteil sind Umsteiger von oder zur Bahn. Nicht nur, was Arbeitsplätze betrifft, will Augsburg – das sich noch immer vom Wegfall der Textilindustrie in den 90er Jahren erholen muss – vom Tunnel profitieren. Auch die Innenstadt leidet seit Jahren unter Kundenschwund, vor allem aus der weiteren Region. Das Oberzentrum hat an Strahlkraft verloren. Ein Bahnhofstunnel allein wird keine Kunden zurückbringen. Aber er könnte ein Baustein sein.