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Performance: Abtauchen im Zeichenfluss

Performance

Abtauchen im Zeichenfluss

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    Diese Wandzeichnung erstreckt sich über 25 Meter Länge in den Räumen des Kunstvereins Augsburg. Inspiriert wurde Heather Sheehan von dem draußen vorbeifließenden Lechkanal.
    Diese Wandzeichnung erstreckt sich über 25 Meter Länge in den Räumen des Kunstvereins Augsburg. Inspiriert wurde Heather Sheehan von dem draußen vorbeifließenden Lechkanal. Foto: Michael Schreiner

    Eine Frau in einem schlichten Kleid geht barfuß, jeder Schritt langsam und tastend, an einem Flussufer entlang. Sie trägt ein weißes Kopftuch und legt unter einer Weide den Sack aus grobem Leinen und den schwarzen Stein ab, den sie wie ein Kind oder ihre Seele in den Armen trug. Dann dreht sie dem Betrachter des in Schwarz-Weiß gedrehten Videos den Rücken zu und schreitet ins Wasser, das ihr bald bis zu den Oberschenkeln reicht. Schnitt.

    Die nächste Einstellung zeigt nichts als Wasser, den dahinströmenden Fluss. Ende. Diese „alighting on the river“ betitelte Arbeit aus dem Jahr 2015 ist charakteristisch für das Schaffen der 1961 im Bundesstaat New York geborenen Heather Sheehan. Die seit über 20 Jahren in Köln lebende Performance-Künstlerin inszeniert stille, intime Szenen, in denen es um Veränderung und Verwandlung geht. Die bedeutungsoffenen poetischen Bilder, die sie findet, sind ganz losgelöst von aktuellem gesellschaftlichen Kontext oder wiedererkennbaren Orten. Sheehan arbeitet mit einfachen, archaischen Materialien wie grobem Leinen, Jute und Seidenstoffen, mit Tauen, Holz und Steinen. Die Fotosequenzen, die sie auf Dachspeichern, in leeren Zimmern oder in der Natur aufnimmt, sind intime Selbstinszenierungen ohne jedes Publikum: Die Amerikanerin fotografiert sich analog mit Selbstauslöser. Ihre Arbeiten tragen Titel wie „Das Entrinden der Weide“ oder „Sack & Spirit“.

    Manchmal ist sie nackt in diesen traumhaft verrätselten Interieurs, manchmal in Bewegungsunschärfe, meist mit Stoffen hantierend. Heather Sheehan sucht nach Ausdrucksformen für Körperbewusstsein und existenzielle Erfahrungen. Dafür schlüpft sie in eine Rolle: die wie aus der Zeit gefallene Frau im selbst genähten Kleid, mit Kopftuch.

    Der Kunstverein Augsburg stellt nach Nezaket Ekici nun mit Heather Sheehan binnen weniger Monate eine weitere Performance-Künstlerin vor. Während Ekici in ihren öffentlichen, harten Performances oft bis an die Schmerzgrenze geht und sich Torturen aussetzt, ist die Amerikanerin Sheehan eher eine zärtliche, scheue Erzählerin. Sie schreibt Gedichte auf handgewebtes Kirchenleinen, das sie in eine alte Schreibmaschine spannt, sie näht schwebende, hauchzarte Seidenskulpturen, die Hülle und Häutung zugleich sind.

    Ihre schönste Arbeit in den Räumen des Kunstvereins am Holbeinplatz ist eine Wandzeichnung, die sich über 25 Meter Länge wie ein Fries auf Kniehöhe durchs Erdgeschoss zieht. Fast drei Tage lang hat Heather Sheehan mit einem Grafitstift, das Handgelenk bandagiert wegen der enormen Belastung, Striche und Bögen auf die weiße Wand gezeichnet. Ein loses Gewebe aus Linien und Schlaufen, eine wunderbar feingliedrige Zeichnung, inspiriert vom draußen vor der Tür vorbeifließenden Lechkanal.

    Diese „gewebte“ Zeichnung, die Wasser und Stoff gleichsam vereint, liest sich wie eine seismografische Geheimschrift. Dort, wo Sheehan im Zeichenfluss unterbrochen wurde, finden sich tatsächlich gezeichnete Knoten. Am 19. August wird die Künstlerin Teile dieser Arbeit in einer Performance mit Wasser aus dem Lechkanal wieder von der Wand wischen. Ähnlich wie die „Waterline“ betitelte Grafitzeichnung in Augsburg war eine Arbeit, die Heather Sheehan in Köln in einem Kunstraum realisiert hatte: Dort bedeckte sie eine ganze Zimmerwand mit ihrer „Handschrift“.

    Performance-Kunst ist schwer auszustellen – denn das direkte Erlebnis (wie es den Vernissage-Besuchern geboten wurde) fehlt. Was zu sehen ist, sind Dokumentationen, Abbildungen und Artefakte von Aktionen (wie der Sack und der Stein). Gleichwohl ist dem Kunstverein mit dieser reduzierten, konzentrierten Ausstellung gelungen, einen Kunstraum zu schaffen, in dem jeder dem Fluss seiner eigenen Assoziationen folgen kann.

    bis 20. September. Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 bis 17 Uhr. Performance mit Heather Sheehan am 19. August, 19 Uhr

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