Wenn Richter der Verzweiflung nahe sind, ist das meist kein gutes Zeichen für ein Verfahren. Am Mittwochabend schlug Lenart Hoesch die Hände vors Gesicht und nahm sie für eine lange Minute nicht mehr herunter. Drei Gutachter hatten Hoesch und seine Kollegen der Jugendkammer beauftragt, ihnen bei der extrem heiklen Entscheidung zu helfen, ob der Mörder der kleinen Vanessa freigelassen werden kann oder eingesperrt bleiben muss. Und in diesem Moment war klar, dass das Gericht bei seiner Entscheidung doch ganz auf sich allein gestellt sein wird.
Heute wird Gutachter Adorf wohl aus dem Prozess geworfen
Denn während zwei der Sachverständigen sich in ihren Aussagen neutralisierten, war der Würzburger Psychiater Pantelis Adorf gerade dabei, sich selbst zu demontieren. Er versuchte, seinen dürftigen, nur 25 Seiten umfassenden Bericht zu rechtfertigen und geriet dabei so sehr ins Straucheln, dass am Ende praktisch alle an seiner Eignung als Gutachter für dieses Verfahren zweifelten. Es ist nichts anderes zu erwarten, als dass Adorf heute vor den Plädoyers aus dem Verfahren hinausgeworfen und womöglich seine Vergütung gestrichen wird. Ein Skandal? Zumindest eine berufliche Katastrophe für Adorf. Ein Imageschaden für die Gutachter-Branche. Und ein Dilemma für die Richter.
Auch Hoesch dürfte klar geworden sein, dass es keine gute Idee war, Adorf für diesen Prozess auszuwählen. Die Frage, warum die Jugendkammer es dennoch getan hat, ist noch nicht geklärt. Die bisher einzige, unbefriedigende Antwort ist, dass Adorf schon seit Jahren am Landgericht Augsburg tätig ist und bis dato nie negativ aufgefallen sein soll. Nach seinem Auftritt im Vanessa-Verfahren ist dies freilich nur schwer vorstellbar.
Bei Weitem nicht alle Gutachter blamieren sich derart. Das muss an dieser Stelle gesagt werden. Wenngleich Vanessas Mutter Romana Gilg findet, dass sich in dem Verfahren um den Mord an ihrer Tochter die Gutachter nicht mit Ruhm bekleckerten. Der angekratzte Ruf kommt daher, dass sich Gerichtspsychiater manchmal irren. Und wenn sie sich irren, bezahlt das ein Mensch womöglich mit seinem Leben. Das schlägt dann hohe Wellen.
Der Freiburger Kriminologe Helmut Kury, der als Gutachter im Vanessa-Prozess die Freilassung des Mörders unter strengen Auflagen befürwortet, sagt, dass Prognose-Gutachten dieses Risiko immer bergen. Niemand könne mit Sicherheit wissen, ob ein Straftäter rückfällig wird. Wenn das Gericht seinen Empfehlungen folgt, ist das eine große Bürde: „Wenn er dann rückfällig wird, bin ich vielleicht nicht schuld im juristischen Sinne, aber im moralischen.“ Für einen Gutachter sei diese Vorstellung „der Super-Gau“. „Man lebt den Rest des Lebens mit dem Vorwurf: Ich bin mitschuldig, weil ich etwas übersehen habe.“ Ein Dilemma.
Gutachter hatten Michael W. für gesund erklärt
Aus Angst vor diesem Szenario neigen psychiatrische Gutachter dazu, sich überwiegend für das Wegsperren auszusprechen. Das gilt auch für Richter. Gerade wenn es um die Sicherungsverwahrung geht, stehen Sachverständige und Richter unter enormem Druck. Auch wegen der permanenten Debatte um den Schutz der Bevölkerung. Die Gerichte geben daher immer mehr Prognose-Gutachten in Auftrag. Um sich abzusichern. Um die Verantwortung zu teilen, könnte man auch sagen. Kury spricht von einer wahren „Gutachten-Flut“.
Ganz nebenbei ist die Gutachterei ein sehr einträgliches Geschäft. Im Fall einer schwierigen Expertise wie bei Michael W. werden für das schriftliche Gutachten mehrere tausend Euro fällig, dazu erhalten die Sachverständigen einen Stundenlohn von bis zu 85 Euro. Bei bisher zwölf Verhandlungstagen und, sagen wir, durchschnittlich sechs Stunden pro Tag plus Fahrtkosten kommt da einiges zusammen.
Aber muss man denn unbedingt Psychiater sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass etwas nicht stimmt mit einem 19-Jährigen, der als Tod verkleidet nachts durch die Straßen von Gersthofen streunt, in ein zufällig ausgewähltes Haus eindringt, sich in ein Kinderzimmer schleicht, mit einem Küchenmesser neben dem Bett einer Zwölfjährigen steht und das Mädchen, als es aufwacht, mit 21 Messerstichen tötet?
Die Gutachter haben Michael W. damals im Strafprozess für schuldfähig und damit für gesund erklärt. Der Augsburger Landgerichtsarzt Richard Gruber sprach zwar von einer „emotionalen Legasthenie“, also Gefühlsarmut, sah aber keine ausreichenden Hinweise für eine Persönlichkeitsstörung oder „schwere seelische Abartigkeit“. Das wären Voraussetzungen für verminderte Schuldfähigkeit.
Vor diesem Dilemma steht das Gericht: Hier geht es zum zweiten Teil