Jugendgerichtshelferin Doris Stuhlmiller hatte 2003 dagegen heftig protestiert: „Diese scheinbare Gefühlsarmut ist ein Schutzmechanismus bei traumatisierten Personen, die eine hohe Spannung in sich abgekapselt haben“, sagte sie. Außen ein nettes Erscheinungsbild und innen eine mörderische Aggression – eine „brandgefährliche Konstellation“ sei das, so Stuhlmiller.
Das Gericht folgte Gruber. Michael W. kam ins Gefängnis, nicht in die Psychiatrie. Heute, neun Jahre später, müsste das Gericht nachweisen, was bislang bestritten wurde: Dass Vanessas Mörder an einer psychischen Störung leidet, die ihn für die Allgemeinheit hochgradig gefährlich macht. Diese Regeln hat das Bundesverfassungsgericht für die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung aufgestellt.
Der Sachverständige Gruber steckte damals auch in einem Dilemma. Gutachter dürfen die „Anlasstat“, also die Tat, wegen der der Angeklagte vor Gericht steht, nicht berücksichtigen. Wenn sie also über die Schuldfähigkeit eines Angeklagten urteilen, müssen sie so tun, als wüssten sie nichts von der Tat. Unabhängig davon müssen sie prüfen, ob jemand psychisch gestört ist. Dass Michael W. ohne irgendein Motiv ein kleines Mädchen erstochen hat, zählte nicht. Das klingt absurd, könnte man doch zu dem Schluss kommen, dass eine solche Tat gerade das Symptom einer psychischen Erkrankung ist.
Das Problem liegt in der Logik der Strafjustiz. Wäre jeder Mord ein Symptom für eine psychische Störung, hätte sie keine Grundlage mehr. Dann dürfte nicht die Frage nach der Strafe gestellt werden, sondern man müsste fragen: Wie kann man den Täter psychiatrisch behandeln, damit er es nicht wieder tut? Das kam 2003 nicht infrage. Hätte die damalige Jugendkammer Michael W. die Schuldfähigkeit abgesprochen, es hätte einen Aufschrei der Empörung gegeben. Die Öffentlichkeit wollte ihn im Knast sehen, nicht im Krankenhaus.
Doch gab es auch damals genügend Hinweise darauf, dass Michael W. ein schwer traumatisierter Mann sein könnte. Er wird 1982 in der ehemaligen DDR geboren und bereits nach etwa einem Jahr seinen Eltern weggenommen, weil die sich nicht ausreichend um das Kind kümmerten. W. muss ins Heim. Wenn er zum Wochenendbesuch bei den Eltern ist, kommt er teilweise im Intimbereich verdreckt zurück ins Heim. Einmal kehrt er mit einem gebrochenen Bein zurück.
Als Michael sechs ist, adoptiert ihn das Ehepaar W. Zunächst ein Glücksfall. Vor allem zu seinem Adoptivvater entwickelt sich ein gutes Verhältnis. Kurz nach der Wende zieht die Familie nach Mering bei Augsburg. Alles scheint sich zum Guten zu wenden. Doch im März 1993 wird der Adoptivvater, er ist Gleisbauer, von einem Zug überrollt. Dieser Tag, als der kleine Michael mit einer Eins aus der Schule heimkommt, sie stolz dem Vater zeigen will und dann erfährt, dass seine wichtigste Bezugsperson tot ist, wird von allen Gutachtern als einschneidendes Erlebnis gewertet.
Leidet Vanessas Mörder an einer psychischen Störung?
Michael fällt in der Schule ab und muss auf eine Sonderschule. Er zieht sich zurück und schaut massenhaft Videofilme, auch Horrorstreifen. Er trinkt zeitweise viel Alkohol. Mit dem neuen Freund der Adoptivmutter gibt es Streit. Oft schleicht sich der Junge nachts aus der Wohnung und streift durch die Straßen. In einem Berufsbildungszentrum fällt er durch nicht immer lustige „Streiche“ auf. Da sei er „von der Defensive in die Offensive übergegangen“, sagte er Psychologen. Zwei Monate später, am Rosenmontag 2002, ermordet er Vanessa.
Ist dieser Mensch, heute 29 Jahre alt, immer noch gefährlich? Das ist die entscheidende Frage. Das Gericht steht vor einem Dilemma: Welchem Gutachter soll es folgen? Ralph-Michael Schulte, der sagt, dass Vanessas Mörder noch gefährlich sei? Oder Helmut Kury, der Vanessas Mörder unter strengen Auflagen entlassen würde? Soll das Gericht überhaupt einem der Gutachter folgen? Es ist dazu nicht verpflichtet. Kury hatte einen wichtigen Vorteil: Er konnte Michael W. persönlich untersuchen, an drei Tagen. Die anderen Gutachter mussten ihre Expertisen aus den Akten erstellen. Weil W. sich weigerte, mit ihnen zu sprechen.
Ein Dilemma, das nur der Gesetzgeber lösen kann. Wie wäre es damit: Ein Täter, der sich Untersuchungen von Psychiatern verweigert, bleibt automatisch länger hinter Gittern. Zu radikal? Gegenfrage: Ist es richtig, dass der Täter selbst entscheidet, mit welchem Gutachter er spricht und mit welchem nicht? Nur damit der Verteidiger später die Gutachten kritisieren kann, die aus den Akten erstellt wurden?
Urteil fällt spätestens am 27. Juli
Heute sollen die Plädoyers gehalten werden. Ganz sicher ist das noch nicht. Einer der Richter, Thomas Junggeburth, hat sich am Freitag beim Fußballturnier der bayerischen Justiz in Gersthofen den Ellenbogen gebrochen. Er wurde schon operiert. Ob er heute am Prozess teilnehmen kann, werde sich kurzfristig entscheiden, sagt ein Gerichtssprecher. Wird wie geplant plädiert, ist mit Überraschungen nicht zu rechnen. Verteidiger Adam Ahmed wird fordern, dass Michael W. freikommt. Staatsanwalt Hans-Peter Dischinger verlangt die Sicherungsverwahrung. Innerhalb von elf Tagen muss dann das Urteil fallen, also spätestens bis Freitag, 27. Juli.
Am Ende haben die Richter allein das Sagen. Diese Bürde kann ihnen niemand nehmen. Sie sind die Rechtsexperten. Letztlich geht es beim Thema Sicherungsverwahrung immer um Rechtsfragen. Gutachter sind dabei Helfer der Richter.
Sollte die Entscheidung „Sicherungsverwahrung“ lauten, sei vorsorglich gesagt: Michael W. ist keiner der Täter, die man ein Leben lang wegsperren wird können. Zumal die nachträgliche Sicherungsverwahrung für nach Jugendstrafrecht Verurteilte noch einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte harrt. Die übrigen Regelungen zur Sicherungsverwahrung haben die hohen Gerichte bereits kassiert. Der Gesetzgeber muss neue Regeln aufstellen. Ein Dilemma.
Wahrscheinlich geht es bei Vanessas Mörder um ein paar Jahre Therapie mehr, die zuletzt in Strafhaft nicht in ausreichendem Maß stattgefunden hat. Und dann?
Gutachter Helmut Kury beruft sich auf die Statistik, wenn er sagt: „Mörder werden in der Regel nicht rückfällig.“ Es gebe allerdings überall Ausnahmen. „Und ein Gutachter muss feststellen, ob er eine solche Ausnahme vor sich hat.“
Was für ein Dilemma.