Aichach Ein Zeitzeuge der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) hat den Schülern der neunten Klassen des Deutschherren-Gymnasiums von seinen Erlebnissen in der Diktatur berichtet. Hintergrund war, dass sich am 9. November der Fall der Berliner Mauer 1989 jährte.
„Wie viele Liegestütze kannst Du?“, diese Frage stellte Ralf Weber aus Hoyerswerda während seines Vortrags. 550 in drei Stunden klingt für viele Jugendliche wie ein erstrebenswertes Ziel, noch dazu, wenn zwischen je zwei Liegestützen eine Kniebeuge und ein Strecksprung zu absolvieren sind. Doch die Methode wird zum Albtraum, wenn der etwa vierzehnjährige Durchschnittssportler erfährt, dass Gleichaltrige bis vor 24 Jahren diese Übung als sogenannten „Torgauer Dreier“ im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau regelmäßig jeden Samstag machen mussten. Zudem wurde auf dem Rücken der Gruppe ausgetragen, wenn einer die willkürlich gesetzte Norm nicht schaffte. Die Jugendlichen machten die Übung im Sommer und im Winter nur im kurzen Turnhemd draußen. Wer dabei zusammenbrach, wurde mit eiskaltem Wasser übergossen: Sport als systematischer Terror, um Jugendliche zu brechen.
Der heute 58-jährige Weber hat den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau ebenso überstanden, wie zuvor sechs andere DDR-Jugendheime und danach noch Heime für Erwachsene und das DDR-Armeegefängnis Schwedt. Wie er sagt, hat ihn das System aber hart gemacht, anstatt ihn zu brechen.
Bei seinem Vortrag sprach Weber dennoch teilweise sehr schnell, als ob das Berichtete noch immer schmerzhaft für ihn sei. Am Anfang stand ein Vater, der der DDR den Rücken kehrte und dabei Frau und Sohn zurückließ. Das genügte dem System, um Weber in ein Jugendheim einzuliefern, damit aus ihm doch noch eine „sozialistische Persönlichkeit“ würde, wie es hieß.
Diese versuchte man ihm mit Gewalt und Prügel einzubläuen, wie er den Aichacher Schülern berichtete. Mehr als zwanzig Narben an seinem Körper zeugen davon. Die Zeit in verschiedenen Heimen dauerte elf Jahre, von 1961 bis 1972. Weitere Repressalien und regelmäßiges Eindringen in seine Wohnung musste er noch bis 1989 ertragen. Seither kämpft Weber um Entschädigung für die Opfer dieses Systems, klagte oft ohne Rechtsbeistand erfolgreich bis zum Bundesverfassungsgericht und vertritt heute seine damaligen Leidensgenossen.
Auf Nachfrage berichtete der Referent, dass ihm der Kontakt zu seiner Mutter verboten war. Nur einmal gab es ein Zusammentreffen. Dabei sollten Mutter und Stiefvater im Beisein des Heimleiters offenbar im Sinne des Systems positiv auf ihr Kind einwirken. Weber war wiederum verboten worden, etwas über das foltergleiche Sportprogramm und die auferlegten Arbeiten zu erzählen. Es kam daher kein richtiges Gespräch zustande und dieser einzige Besuch wurde vorzeitig abgebrochen, wie der 58-Jährige sagt.
Nach Aichach kam Weber, weil eine ehemalige Abiturientin des Deutschherren-Gymnasiums, Carina Strobl, für ihre Zulassungsarbeit zum Lehramtsexamen Opfer des Erziehungssystems der DDR interviewt hatte. (AN)